
Kriminalität stellt in einer globalisierten Welt eine große Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft dar. Das Economy & Crime Research Center hat es sich als universitäres Kompetenzzentrum zur Aufgabe gemacht, die Wechselwirkungen zwischen Kriminalität, Gesellschaft und Wirtschaft zu erforschen. In Studien wurden die Auswirkungen von Fremdenfeindlichkeit und rechter Gewalt auf die Standortwahl von Unternehmen untersucht. Der Schwerpunkt liegt derzeit in der Risikoanalyse, Ursachenforschung und Wirkung von Kontroll- und Präventionsmaßnahmen im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Ein interdisziplinär besetztes Forschungsteam aus (Wirtschafts-)Psychologen, Kriminologen, Wirtschaftswissenschaftlern und Juristen begleitet Studien wissenschaftlich und setzt praxisorientierte Forschungsinteressen um. Die Studien werden mit Mitteln öffentlicher oder privater Drittmittelgeber bzw. Auftraggeber durchgeführt. Seit 2004 führt das Center internationale Unternehmensbefragungen zur Sicherheitslage der Wirtschaft durch. 2007 wurde mit Mitteln der VW-Stiftung ein Deutschland-USA Vergleich unter Beteiligung von über 1800 Unternehmen und über 80 Intensivinterviews mit verantwortlichen Managern abgeschlossen. In Kooperation mit PricewaterhouseCoopers International wurde der Global Economic Crime Survey 2005 und 2007 durchgeführt. Seit 2009 begleitet das Center die zweijährigen Studien von PricewaterhouseCoopers Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zur Wirtschaftskriminalität. 2010 erfolgte die PwC-Studie zur Kriminalität im öffentlichen Sektor unter Einbeziehung von 500 Behörden. Derzeit unterstützt das Center eine Studie des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) zu Zuwendungen gegen Entgelt im Gesundheitssystem. Hierzu wurden über 1.100 Interviews mit Ärzten, Kliniken und nicht-ärztlichen Leistungserbringern durchgeführt. Mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) werden im Rahmen einer Langzeitstudie die Einflussfaktoren für die Wirkung eines Anti-Korruptionsprogramms untersucht. Vorgesehen ist eine webbasierte Befragung von verantwortlichen Managern in über 30 größeren Unternehmen (Gesamtfallzahl über 3.000). (Foto: Matthias Preisinger / pixelio.de)
Uni-Studie: "Illegale Honorare für Klinikeinweisungen an Ärzte gezahlt"
Fangprämien sind im deutschen Gesundheitswesen keine Ausnahme, sondern gängige Praxis, so beschreiben niedergelassene Ärzte, leitende Angestellte von stationären Einrichtungen sowie nicht-ärztliche Leistungserbringer die aktuelle Versorgungspraxis im Rahmen einer repräsentativen Studie im Auftrag des GKV-Spitzenverbandes. Statt medizinischer Argumente entscheiden offenbar oft Prämiengelder oder Sachleistungen, zu welchem Arzt, zu welcher Klinik oder welchem Hilfsmittelerbringer Patienten gelenkt werden. Ebenfalls erschreckend: Etwa jeder fünfte Leistungserbringer kennt oder interessiert sich für die jeweiligen berufs- und sozialrechtlichen Vorgaben, die Zuweisungen gegen Entgelt eindeutig verbieten, nicht.
Häufige Praxis für jeden fünften Arzt und jeden zweiten Hilfsmittelerbringer
Zuweisungen von Patienten gegen wirtschaftliche Vorteile sind üblich, meinten 14 Prozent der befragten niedergelassenen Ärzte und 35 Prozent stimmten dem zumindest teilweise zu. 20 Prozent von ihnen meinten, ein solches Vorgehen komme gegenüber anderen Ärzten oder Hilfsmittelerbringern häufig vor.
"Ich bin sicher, dass viele Leistungserbringer korrekt handeln. Wenn man aber durch die Selbsteinschätzung der Branche sieht, dass jeder fünfte Arzt die berufsrechtlichen Verbote nicht kennt und zugleich Zuweisungen gegen Entgelt auch als selbstverständlich ansieht, ist das ein Skandal. Denn das hieße, dass hochgerechnet mehr als 27.000 niedergelassene Vertragsärzte schon heute gegen das Berufsrecht verstoßen. Würde hier das Strafrecht angewendet werden, wäre klar, welches hohe Korruptionspotential im deutschen Gesundheitswesen besteht", so Gernot Kiefer, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes.
Als noch etablierter beschreiben Vertreter von stationären Einrichtungen und nicht-ärztliche Leistungserbringer Zuweisungen gegen Entgelt. Etwa ein Viertel (24 Prozent) der stationären Einrichtungen und fast jeder zweite (46 Prozent) nicht-ärztliche Leistungserbringer bezeichnete diese Praxis als üblich. Oft oder zumindest gelegentlich würden für Zuweisungen wirtschaftliche Vorteile gewährt bzw. angenommen, meinten 40 Prozent der stationären Einrichtungen. Bei den nicht-ärztlichen Leistungserbringern waren es sogar 65 Prozent, die nach der Verbreitung solcher Zuweisungen gefragt mit häufig oder gelegentlich antworteten.
"Die von den Studienteilnehmern wahrgenommene gängige Praxis der Zuweisungsvergütung lebt in vielen Fällen davon, dass das Entdeckungsrisiko für den einzelnen Akteur relativ gering und die Nachteile für den Berufsstand sowie das Gesundheitssystem insgesamt weit entfernt sind", so Studienleiter Prof. Kai-D. Bussmann vom Economy & Crime Research Center der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Geber und Nehmer
Niedergelassene Ärzte und stationäre Einrichtungen treten nach Einschätzung der Branche sowohl als Geber wie auch als Nehmer auf; nicht-ärztliche Leistungserbringer hingegen nur als Geber. Als Anreize werden sowohl Geld aber auch Sachleistungen wie Tagungskosten oder Geräte angeboten bzw. angenommen, urteilten die Befragten. Bei niedergelassenen Ärzten und stationären Einrichtungen kämen auch prä- respektive postoperative Vereinbarungen vor.
Drei Viertel der nicht-ärztlichen Leistungserbringer gaben an, dass ihnen durch die wettbewerbswidrige Praxis in den zurückliegenden zwei Jahren ein finanzieller Schaden beispielsweise durch Umsatzeinbußen entstanden ist. 32 Prozent berichteten über mittelschwere und 15 Prozent sogar über gravierende wirtschaftliche Nachteile. Vor allem Hörgeräteakustiker, Orthopädieschuhtechniker, -schuhmacher und Sanitätshäuser seien hiernach überdurchschnittlich stark betroffen.
Diejenigen niedergelassenen Ärzte, die von einem konkreten Angebot berichten konnten, suchten mehrheitlich keine Hilfe bei der Ärztekammer (nur elf Prozent) oder bei den von Ärzteschaft und Krankenhausvertretern bei den Landesärztekammern eingerichteten sogenannten Clearingstellen (drei Prozent). Dagegen wandten sich etwa ein Drittel der betroffenen nicht-ärztlichen Leistungserbringer an ihren Berufsverband.
"Fehlende Kontrollen und Sanktionen des jeweiligen Berufsstandes lassen Zuweisungen gegen Entgelt offenbar als risikoarmes Kavaliersdelikt erscheinen. Doch dem ist nicht so. Daher werden die gesetzlichen Kassen die neuen sozialgesetzlichen Möglichkeiten jetzt nutzen und z. B. über die Arbeit in den Zulassungsausschüssen Vertragsärzte notfalls sogar die Zulassung entziehen, wenn sie für Patientenzuweisungen Vorteile annehmen oder anbieten. Patienten müssen sich darauf verlassen können, dass Ärzte eine bestimmte Klinik oder ein Labor aus medizinischen und nicht aus monetären Gründen empfehlen“, so Kiefer. „Klar ist angesichts dieser Studienergebnisse, wo die bestehenden berufs- und sozialrechtlichen Verbote nicht beachtet werden, müsste man als ultima ratio endlich auch das Korruptionsstrafrecht bei niedergelassenen Ärzten anwenden."
Hintergrundinfos zur Studie
Die Studie entstand unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Kai-D. Bussmann vom Economy & Crime Research Centers der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie basiert auf einer Selbst- und Brancheneinschätzung medizinischer Leistungserbringer zur Kenntnis und Anwendung von Rechtsnormen sowie zur Praxis gezielter Zuweisungen. Im Herbst 2011 hat TNS Emnid Bielefeld dazu bundesweit 600 niedergelassene Fachärzte, 180 leitende Angestellte von stationären Einrichtungen (Krankenhäuser, Reha- und Kureinrichtungen sowie Pflegeheime) sowie 361 nicht-ärztliche Leistungserbringer (z. B. Apotheken, Sanitätshäuser, Hörgeräteakustiker oder Orthopädischumacher) telefonisch interviewt. Ergänzend wurde gezielt nach eigenen, konkreten Erfahrungen mit gezielten Zuweisungen gefragt – entweder als Nehmer oder als Geber. Anhand dieser Fallbeispiele sollten die vorher geäußerten Wahrnehmungen zum Verhalten der Berufsgruppe objektiviert werden.
Lesen Sie auch dazu die Reaktionen und Stellungnahmen
KBV: "Wir fordern die Kassen auf, Ross und Reiter gegenüber den Kammern und den Kassenärztlichen Vereinigungen zu nennen", forderte Dr. Andreas Köhler, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Die Chance dazu hätten sie bisher jedoch nicht ergriffen. "Gegen Pauschalverurteilungen und allgemeine Diffamierungen der Ärzteschaft verwahren wir uns entschieden!", stellte Köhler fest.
Sollte es nachweislich zu derart unlauteren Praktiken gekommen sein, würden die Verantwortlichen selbstverständlich zur Rechenschaft gezogen. - Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) forderte die Kassen zum Handeln auf. "Die Gesetzeslage ist klar", sagte Bahr der Deutschen Presse-Agentur. "Wenn ein Arzt gegen Entgelt in Kliniken zuweist, muss das geahndet werden." Die Kassen müssten Verdachtsfällen konkret nachgehen und Konsequenzen ziehen. Eine Studie alleine reiche aber nicht aus. Daten über einen Anstieg solcher Fälle lägen nicht vor.
Bundesärztekammer-Präsident Frank Ulrich Montgomery warf den Autoren der Studie vor den Delegierten des Ärztetags Stimmungsmache gegen Mediziner vor. Er forderte die Kassen zur Anzeige der "schwarzen Schafe" auf. "Die Kassen sollen Ross und Reiter nennen, wenn sie das können." Nach Montgomerys Worten ist an vielen Fällen, die den Anti-Korruptions-Einrichtungen vorgelegt wurden, "nichts dran". Auch der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Köhler, verwahrte sich gegen Pauschalverurteilungen.
Bereits zur Eröffnung des Ärztetags warnte Montgomery vor 1100 Gästen davor, dass Ärzte nach einem mit Spannung erwarteten Urteil des Bundesgerichtshofs als Kassen-Beauftragte gewertet werden könnten. Sie könnten dann leichter der Korruption beschuldigt werden.
"Das wäre der Tod jeder freien Medizin." Ein SPD-Antrag gegen Korruption in Praxen und Kliniken diene dem Abbau von Freiheit. "Das Vertrauensverhältnis zwischen Patienten und Ärzten soll unterminiert, ausgehöhlt und zerstört werden", sagte Montgomery.
Im Schulterschluss mit Bahr verwahrten sich die Ärzte auch gegen andere Reformforderungen. Die unter Druck stehende private Krankenversicherung (PKV) wollen die Ärzte in heutiger Form erhalten.
Insbesondere gegen die Pläne von SPD, Grünen und Linken für eine Bürgerversicherung für möglichst alle Menschen ziehen die Ärzte zu Felde. Weniger Leistungen, weniger Neuerungen und mehr Zwei-Klassen-Medizin mit besserer Versorgung für Gutverdiener wäre die Folge, so Montgomery. Nur sie könnten sich dann mehr leisten.
Mit auffällig deckungsgleichen Argumenten in zentralen Punkten zog Bahr die Ärzte auf seine Seite. So forderte der FDP-Minister die PKV zum Abstellen von Fehlentwicklungen auf, um die Zweiteilung in private und gesetzliche Versicherung im Grundsatz zu erhalten. Die Privatkassen sollten keine billigen Lockangebote mehr für junge Gesunde machen. Diese Rosinenpickerei schade der Branche.
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach erntete wütende Zwischenrufe mit seinem Plädoyer für eine Grundsatzreform. In einer eindringlichen Debatte warnten zahlreiche Ärzte vor einer Übermacht ökonomischer Zwänge vor medizinischen Erwägungen. - Montgomery wie Bahr forderten, den Großteil der Milliardenüberschüsse der GKV für schlechte Zeiten zu belassen. Auf die Zehn-Euro-Praxisgebühr könne aber verzichtet werden.
- Weiterführende Links
- www.gkv-spitzenverband.de
- www.econcrime.uni-halle.de