Foto: ap

Dienstag, 04. November 2008

Ulla Schmidt kritisiert mit drastischen Worten widerstreitende Krankenkassen

Von: Bundesgesundheits- ministerium/Stuttgarter Nachrichten

In der Diskussion über den Gesundheitsfonds gab Bundes- gesundheitsministerin Ulla Schmidt den Stuttgarter Nachrichten ein Interview, in dem sie den Krankenkassen vorwirft, die Neuregelung aus Furcht vor mehr Transparenz abzulehnen. Lesen Sie dazu das vollständige Gespräch:

Frage
Frau Ministerin Schmidt, Sie sind die Lieblingsgegnerin von Ärzten, Klinikmanagern und Apothekern. Durch den Gesund- heitsfonds haben Sie auch noch die Krankenkassen gegen sich aufgebracht. Wie fühlt man sich in einem solchen Dauerfeuer?

Ulla Schmidt
Im Gesundheitswesen ist nicht alles so schlecht, wie es die Dauerklage einiger Funktionäre vermuten lassen könnte. Wenn sie mit den Menschen sprechen, die auf Hilfe angewiesen sind, erhalten sie ein ganz anderes Bild. Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Es funktioniert, obwohl beispielsweise Interessenvertreter manchmal den Eindruck erwecken, dass es geradezu menschenunwürdig ist, in diesem System zu arbeiten. Ich treffe viele schwer kranke Menschen. Die wissen, dass sie ihre Behandlung nicht erhalten hätten, wenn die Reformen im Gesundheitswesen unterblieben wären.

Frage
Gibt es eine einfache Erklärung dafür, warum das System von den Funktionären so schlecht geredet wird?

Ulla Schmidt
Das ist schwer zu sagen. Nehmen Sie die Ärztefunktionäre. Anstatt der wichtigen Arbeit der Ärztinnen und Ärzte den angemessenen Stellenwert zu geben, wird deren Tätigkeit von den eigenen Vertretern runter geredet. Das gibt es bei keiner anderen Berufsgruppe. Angeblich bekommen die Ärzte immer zu wenig Geld, müssen immer zu viel arbeiten und sind gezwungen, den Patienten notwendige Behandlungen zu verweigern. Eine wichtige Rolle bei allen Diskussionen spielt sicher, dass es keinen zweiten Politikbereich gibt, in dem man so mit Ängsten der Menschen spielen kann, und in dem so viel Geld über direkte Entscheidungen von Gesetzgeber und Regierung verteilt wird.

Frage
Haben die Ärzte eine überzogene Verdienstvorstellung?

Ulla Schmidt
Früher gab es im wesentlichen zwei Möglichkeiten für junge Mediziner: Entweder sie versuchten, im Krankenhaus Karriere zu machen, oder sie ließen sich nieder. Da war nach Aussagen vieler Ärzte das Geldverdienen leicht. Diese Zeiten sind aber für die Niedergelassenen vorbei, und es fällt vielen Medizinern schwer, das zu akzeptieren. Übrigens verdienen auch Chefärzte in Krankenhäusern nicht mehr ganz so gut wie vor 20 Jahren. Eigentlich muss man diese Debatte ganz anders führen. Natürlich haben Mediziner eine sehr hohe Verantwortung. Vielleicht wird ihre Bezahlung dem tatsächlich nicht immer gerecht. Mir scheint auch, dass da im Verhältnis zu manchen Bankmanagern die Relationen nicht stimmen. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass der Verdienst der Ärzte solidarisch über Beiträge finanziert wird. Das setzt gewisse Grenzen.

Frage
Die allgemeine Stimmung wird derzeit vom Gesundheitsfonds geprägt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass den eigentlich keiner will mit Ausnahme von Ulla Schmidt und Kanzlerin Angela Merkel. Macht Sie so viel Widerspruch nicht skeptisch? Der Gesundheitsökonom Eberhard Wille sagt, der Gesundheitsfonds sei so schlecht nicht, weil er Wettbewerbsanreize setzt, aber alles Positive werde von der missratenen Überforderungsklausel zunichte gemacht.

Ulla Schmidt
Wir als SPD wollten damals, dass der Sozialausgleich in diesem Bereich über Steuern finanziert wird. Das wollte die Union nicht. Wir haben uns dann verständigt, dass wir nach drei Jahren überprüfen, wie sich die Zusatzbeiträge entwickelt haben. Eine Lösung mit den Ländern und dem Koalitionspartner war zum Schluss nur in dieser Form möglich. Und, was Professor Wille angeht: manche Ökonomen unterschreiben Aufrufe gegen den Gesundheitsfonds, die von vorn bis hinten sachlich falsch sind. Vom Vorsitzenden eines Sachverständigenrats Gesundheit würde ich erwarten, dass er solche Papiere doch sorgfältig liest, ehe er sie unterschreibt. Im übrigen: Professor Wille möchte, dass der Zusatzbeitrag unbegrenzt ist. Ihn interessiert es nicht, ob der einzelne überfordert ist.

Frage
Aber die Überforderungsklausel ist doch absurd. Sie kann Kassen auch ohne deren Verschulden in den Ruin führen. Wenn nur genügend geringverdienende Mitglieder unter die Klausel fallen und vom Zusatzbeitrag befreit werden, müssen die besserverdienenden einen entsprechend höheren Zusatzbeitrag zahlen. Die bedanken sich und kündigen. Die Kasse ist pleite.

Ulla Schmidt
Das ist nicht richtig. Die Kassen mit vielen geringverdienenden Mitgliedern profitieren doch am meisten vom neuen Risikoausgleich, weil erstmals die Einkommensunterschiede zwischen den Kassen zu 100% ausgeglichen werden. Aktuell sehe ich nur ein Problem für den Fonds nach 2009, wenn die derzeitige Finanzkrise wirklich auf die Realwirtschaft durchschlägt und wir 2010 eine höhere Arbeitslosigkeit haben. Darüber wird die Regierung beraten. Wir müssen überlegen, was zu tun ist, um nach dem Schutzschild für die Banken einen Schutzschild für die Arbeitsplätze auf den Weg zu bringen.

Frage
Was heißt das konkret für den Fonds? Wird ab der Jahresmitte 2009 darüber entschieden, ob der Beitragssatz oder der Steueranteil steigen muss, wenn das Geld für die Kassen nicht reicht?

Ulla Schmidt
Nach dem Gesetz muss der Schätzerkreis jedes Jahr Anfang Oktober eine Einschätzung für das Folgejahr machen. Ein Problem für 2010 könnte eine steigende Arbeitslosigkeit sein, weil sie direkt Einnahmen der Kassen beeinflusst. Für 2009 sind wichtige Lohnrunden längst gelaufen, und die Experten haben vorsichtig geschätzt. Die Renten z.B. werden um deutlich über zwei Prozent steigen. Da haben die Kassen sichere Mehreinnahmen.

Frage
Der Fonds bleibt flüssig im ersten Jahr?

Ulla Schmidt
Daran besteht kein Zweifel. Wir haben in diesem Jahr 156 Milliarden Euro Einnahmen für die Krankenkassen und werden nach einhelliger Meinung der Experten wieder ohne rote Zahlen abschließen – übrigens zum fünften Mal in Folge. Im nächsten Jahr fließen fast elf Milliarden Euro zusätzlich ins System, für Ärzte, für die bessere Bezahlung der Arbeit in den Kliniken und anderes. Diese 167 Milliarden Euro sollen nicht reichen? Sollen vielleicht jedes Jahr elf Milliarden zusätzlich fließen? Das kann doch wohl nicht sein.

Frage
Sind die Kassen unverschämt, wenn sie mehr Geld fordern?

Ulla Schmidt
Ich habe Verständnis für Vertreter einzelner Kassen, die ängstlich auf 2010 und 2011 blicken. Aber denen sage ich, dass wir nicht dazu da sind, 2009 etwas auf die hohe Kante zu legen. Die Kassenmanager sollen einfach ihren Job machen. Es ist natürlich bequemer, einen Vertrag mit Leistungserbringern zu hohen Konditionen zu machen, als sich um gute Qualität und bezahlbare Preise zu streiten. Ich sage: Die Kassen wissen ab dem 15. November auf Euro und Cent genau, wie viel Geld ihnen im nächsten Jahr zur Verfügung steht. Das haben die noch nie gehabt.

Frage
Was bringt es den Versicherten, wenn Milliarden zusätzlich ins System gepumpt werden? Gibt es bessere Leistungen?

Ulla Schmidt
Im Gesundheitswesen geht es nie nach dem Motto, dass derjenige, der mehr einzahlt, auch mehr zurückbekommt. Der glücklichste Mensch ist der, der viel zahlt, aber nie etwas zurückverlangen muss, weil er gesund ist. Das können sie mit Geld gar nicht kaufen. Das System kann nur funktionieren, wenn viele einzahlen, die keine Leistungen brauchen. Nur so können wir die Behandlung von Patienten bezahlen, die schwer krank sind. Viele Menschen machen sich keine Vorstellung davon, dass allein neue Medikamente für manche Tumorbehandlungen zehntausende Euro im Jahr kosten können. Zum medizinischen Fortschritt kommt die demografische Entwicklung. Die Menschen werden älter, häufig bei guter Gesundheit. Trotzdem steigt das Risiko, zu erkranken. Auch das kostet Geld, weil mehr Behandlungen anfallen. Mein Ziel auch unter schwierigen Bedingungen ist, dass die Menschen zu 100 Prozent am medizinischen Fortschritt teilhaben. Dazu brauchen wir das zusätzliche Geld. Und dazu, um die Menschen, die im Gesundheitswesen und in der Pflege arbeiten, auch anständig zu bezahlen.

Frage
Es gibt ja nicht nur schwer kranke Patienten. Gehen die Deutschen zu oft, weil zu leichtfertig zum Arzt?

Ulla Schmidt
500 Millionen Arztbesuche und 17 Millionen Klinikbehandlungen sind im Vergleich zu anderen Ländern deutlich zuviel. Das System muss deshalb anders gesteuert werden. Ich glaube, viele niedergelassene Ärzte sind einfach überlastet, weil sie alle zehn Minuten einen neuen Patienten haben. Bei einer Erkältung rennen viele sofort zum Arzt, auch wenn es zuhause erst einmal ein Tee oder eine Nasenspülung getan hätten.

Frage
Hat die Praxisgebühr überhaupt nichts gebracht?

Ulla Schmidt
Es ist nachgewiesen, dass Praxisgebühr und Selbstbehalte wirksame Steuerungsinstrumente in finanzieller Hinsicht sind. Zuzahlungen dagegen steuern wenig. Wenn der Arzt einmal etwas verschrieben hat, nehmen die Menschen das auch in Anspruch. Natürlich verlieren Praxisgebühr und Selbstbehalt nach einer gewissen Zeit ihre Wirkung, auch weil wir eine soziale Komponente bei den Zuzahlungen haben und deshalb nach kurzer Zeit viele Patienten freigestellt sind. Ich sehe bei einer sinnvollen Steuerung auch die Kassen in der Verantwortung. Sie können zum Beispiel solchen Versicherten Zusatzbeiträge ersparen, die konsequent einen wirksamen Hausarzttarif nutzen. Das gleiche kann man mit Chronikerprogrammen und Vorsorgemaßnahmen machen. Wir müssen positive Anreize setzen, so stelle ich mir das in Zukunft vor.

Frage
Sie haben eine Bundes-AOK vorgeschlagen und damit gerade in Baden-Württemberg viel Widerspruch geerntet. Was spricht aus ihrer Sicht für eine Fusion der AOKen? Die Südwest-AOK sagt, eine Bundes-AOK kann mit Leistungserbringern nicht besser verhandeln, weil das Kartellrecht eine solche Einkaufsmacht niemals zulassen würde.

Ulla Schmidt
Eine bundesweite Kasse kann natürlich bundesweit günstige Verträge z.B. in der Arzneimittelversorgung aushandeln. Ich hielte es für richtig, wenn die AOKen als Gesamtsystem agieren. Dann könnten sie die Risiken vor allem regional besser verteilen. Wenn die AOK Baden-Württemberg und die AOK Bayern das nicht wollen, dann gehen sie eben ihren eigenen Weg. Es gibt fortschrittliche AOK-Vorsitzende, die nach Fusionsmöglichkeiten Ausschau halten, auch kassenartübergreifend. Die Kassen werden sich neu aufstellen und sich zu Verbünden zusammenschließen. Wer das nicht will, wird nicht dazu gezwungen.

Frage
Wie macht man als Gesundheitspolitikerin Wahlkampf aus einer Großen Koalition der Kompromisse heraus?

Ulla Schmidt
Ich muss als Sozialdemokratin herausstellen, was ich anders machen würde, wenn die SPD eine Mehrheit hätte. Ich stehe zu dem, was wir in der Großen Koalition politisch vereinbart haben. Ich halte nichts davon, durchs Land zu ziehen und das, was man selbst beschlossen hat, schlecht zu machen. Das waren notwendige Kompromisse. Mit einer eigenen Mehrheit würde ich dafür kämpfen, dass die ungesunde Risikoselektion nach Status und Einkommen aufhört, die es nun einmal gibt durch die private Krankenvollversicherung. Wenn man will, dass alle zu 100 Prozent vom medizinischen Fortschritt profitieren, müssen auch alle Bürger zu gleichen Bedingungen für die Risiken zahlen. Heute hat die gesetzliche Krankenversicherung alle schlechten Risiken. Damit muss Schluss sein.

Frage
Selbst um das durchzusetzen, hätte es des Gesundheitsfonds nicht bedurft.

Ulla Schmidt
Ich begreife nicht, warum sich alle so über den Fonds aufregen. Vielleicht hätte man den Namen nicht nennen sollen. Der Fonds ist doch eine virtuelle Veranstaltung. Es geht um einen Einheitsbeitrag, und der wird neu verteilt. Heute sitzen 14 Leute im Bundesversicherungsamt, die machen den Einnahmenausgleich zwischen den Kassen, aber nur zu 92 Prozent. Anschließend kommt der Krankheitsausgleich zwischen den Kassen, der bisher ebenfalls unvollständig ist. Jetzt komplettieren wir diese Ausgleichsmechanismen, was eigentlich alle Kritiker des Fonds wollen. Statt heute 14 Frauen und Männer brauchen wir dafür künftig 21. In Wahrheit geht es den Kassenmanagern darum: Alles soll intransparent bleiben, man will weiter selbstherrlich die Beiträge anheben können in der Hoffnung, dass die Menschen das nicht merken. Kein Kassenmanager will öffentlich erklären und begründen müssen, warum er mit dem Geld aus dem Fonds nicht auskommt. Deshalb sind sie alle dagegen.

Fragen von Willi Reiners und Wolfgang Molitor

<- Zurück zu: Aktuelle Nachrichten