Jedes Jahr kommen zahlreiche neue Medikamente auf den Markt. Die pharmazeutische Industrie steht wie kaum eine zweite Branche im Gesundheitswesen für den medizinischen Fortschritt. Doch längst ist klar: Nicht alles, was neu ist, ist auch besser. Mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) hat der Gesetzgeber ein Verfahren etabliert, das die Frage beantworten soll, welcher Preis für ein neues Medikament angemessen ist. Doch Geld allein ist nicht alles. Entscheidend ist vielmehr: Wie wirken sich Innovationen auf die Qualität der Versorgung aus? Wie häufig verordnen Ärzte solche neuen Medikamente? Und welchen (Zusatz-)Nutzen haben Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen überhaupt für die Patienten? Mit dem Innovationsreport 2013 geben Wissenschaftler der Universität Bremen erstmals umfassende Antworten auf diese und weitere Fragen. Die Studie basiert auf Routinedaten der Techniker Krankenkasse (TK), die das Projekt in Auftrag gegeben hat. Kontakt zur TK-Pressestelle: Telefon 040 - 69 09-17 83, Fax 040 - 69 09-13 53 (Foto: Andrea Damm / pixelio.de)

Dienstag, 11. Juni 2013

TK legt Innovationsreport 2013 vor: "Wenig Innovationspotenzial neuer Arzneimittel"

Von: Porf. Glaeske für TK / Pressemitteilung

Zum ersten Mal erscheint in Deutschland ein Innovationsreport, der sich speziell mit neuen Arzneimitteln und ihrer Anwendung im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beschäftigt. Für diese Analysen konnten Daten der Techniker Krankenkasse (TK) genutzt werden. Die vorgestellten und auf der Basis einer Literaturrecherche vorgenommenen Bewertungen verdeutlichen, dass neue Arzneimittel häufig nicht mit einem erkennbaren therapeutischen Fortschritt verbunden sind und daher keine wirklichen therapeutischen Innovationen darstellen, sondern in vielen Fällen lediglich als "kommerzielle Innovationen" angesprochen werden müssen, deren Einsatz die Therapien verteuert, ohne einen patientenrelevanten Zusatznutzen anzubieten: Das unter Berücksichtigung aller von uns gewählten Beurteilungsaspekte bestbeurteilte Arzneimittel ist mit Ticagrelor das erste AMNOG-bewertete Arzneimittel, welches im Übrigen erst zu Beginn des Jahres 2011 in den Markt eingeführt wurde.

Mehr Informationen zum Innovationsreport 2013 (Webcode "520604") sowie zum AMR (Webcode "480446") sind im Internet unter www.tk.de zu finden. Dort stehen sowohl eine Lang- als auch eine Kurzfassung des Innovationsreports zum Download bereit.

Zwölf der 23 betrachteten neuen Wirkstoffe wurden innerhalb von etwa zwei bis drei Jahren nach der Markteinführung in ärztliche Therapie-Leitlinien aufgenommen, auch ein Hinweis darauf, dass nur rund die Hälfte der Mittel den Ärzten im Verordnungsalltag empfohlen wird. Wirkliche therapeutische Innovationen sind aber auch dadurch charakterisierbar, dass die sie bestehenden Leitlinien ergänzen oder verändern. Betrachtet man die Besonderheiten nach der Markteinführung vieler neuer Arzneimittel, so fällt auf, dass es im Zusammenhang mit der Anwendung in der realen Versorgung vermehrt Publikationen zu Negativmeldungen oder Sicherheitshinweisen gibt – kein Wunder, da doch die Zulassungsstudien nur an einer "überschaubaren" Anzahl an Patienten durchgeführt werden und seltener auftretende unerwünschte Wirkungen in diesem Umfeld nicht entdeckt werden können. Dies verdeutlicht, dass Innovationen in der Realität auch neue Risiken mit sich bringen und es nicht immer von Vorteil zu sein scheint, bisher bewährte Therapien durch die Anwendung neuer Arzneimittel zu verändern. Beispiele für negative Ereignisse nach der Markteinführung: Für Denosumab und Dronedaron wurden Rote-Hand-Briefe mit Hinweisen zu Risiken veröffentlicht, die bei der Zulassung noch nicht ausreichend bekannt waren.

Die neuen Erkenntnisse nach der Markteinführung -von denen gab es für die neuen Arzneimittel sowohl negative als auch positive -zeigen, dass eine erneute Bewertung (Spätbewertung) nach der AMNOG-Frühbewertung bei machen Arzneimitteln nicht nur Sinn macht, sondern unverzichtbar erscheinen. Ein positives Ergebnis ist allerdings, dass Innovationen bzw. neue Arzneimittel nicht immer teurer als bewährte Arzneimittel sein müssen: Bei Eltrombopag, Pazopanib und Velaglucerase alfa lagen die Therapiekosten unter denen vergleichbarer Arzneimittel, bei Pazopanib nach Änderungen der Packungsgröße, bei den anderen beiden Wirkstoffen bereits zum Zeitpunkt der Markteinführung.

Berücksichtigt man bei der Erstellung einer Karte der Verordnungsprävalenz nach Bundesländern nur diejenigen Arzneimittel, denen im vorliegenden Report ein fehlender Zusatznutzen konstatiert wurde, ergibt sich eine asymmetrische Verteilung in Deutschland: In den östlichen Bundesländer konnte gegenüber den westlichen Bundesländern eine zum Teil mehr als doppelt so hohen Verordnungshäufigkeit solcher Arzneimittel festgestellt werden. Beispielsweise liegt die entsprechende Verordnungsprävalenz in der untersuchten Population in Sachsen bei 2,9 Promille, in Niedersachsen hingegen nur bei 1,3 Promille oder in Hamburg bei 1,70 Promille.

Innovationsoptimismus bei der Einführung, Innovationsrealismus nach einigen Monaten!

Die wirkstoffbezogenen Versorgungsanalysen zeigten, dass die Verordnungszahlen nach der Markteinführung häufig in den ersten sechs bis zwölf Monaten ansteigen, worauf meistens unterschiedliche Entwicklungen folgen: Bei einigen wird ein Plateau erreicht (z.B. Silodosin), bei anderen kommt es gegebenenfalls nach einer Plateau-Phase zu einem weiteren Anstieg (z.B. Denosumab) oder zum Teil noch im Beobachtungszeitraum bis Ende 2011 zum Absinken der Verordnungszahlen (z.B. Indacaterol, Dronedaron). Im Falle des Atemwegsmedikaments Indacaterol war der drastische Rückgang Ende 2011 sicherlich der Einordnung in eine Festbetragsgruppe geschuldet. Diese Eingruppierung war an eine Erstattungshöchstgrenze gekoppelt. Da aber der Hersteller den Preis nicht senkte, was für die Versicherten auch mit Mehrkosten verbunden war (z.T. über 100 ¤, je nach Präparat), könnte dies einen Hinderungsgrund für die Verordnung bedeutet haben. Im Fall von Dronedaron hängt der Rückgang der Verordnungen ab Mitte 2011 möglicherweise mit den Negativdaten aus der abgebrochenen PALLAS-Studie zusammen: Unter der Dronedaron-Therapie bei Patienten mit permanentem Vorhofflimmern kam es hier zu einer signifikanten Zunahme schwerwiegender Herz-Kreislauf-Komplikationen, was die Veröffentlichung eines Rote¬Hand-Briefes und eine Zulassungsbeschränkung zur Folge hatte.

Wie beispielsweise in den Spezialkapiteln zu sehen war, erreichten die neuen Arzneimittel des Jahres 2010 selten relevante Marktanteile, abgesehen von Dronedaron, in Teilen auch Tapentadol oder Arzneimittel für seltenere Erkrankungen mit wenigen bis keinen Therapiealternativen. Nach den vorliegenden Daten hat sich keine der vorgestellten Innovationen im Untersuchungszeitraum  zum Blockbuster entwickelt und aller Voraussicht nach wird dies auch so bleiben. Interessant bleibt die weitere Marktentwicklung bei Ticagrelor, dem ersten Arzneimittel, zu dem eine AMNOG-Nutzenbewertung veröffentlicht wurde. Die positiven Ergebnisse, zumindest bezogen auf den Zusatznutzen bei den Indikationen instabile Angina pectoris und Herzinfarkt ohne ST-Streckenhebung, und die darauffolgende Ausweisung als Praxisbesonderheit (= keine Regressgefahr für verordnende Ärzte) könnten hier für weiteren Auftrieb gesorgt haben. Zukünftige Datenanalysen werden die Entwicklung dieses Arzneimittels zeigen – auch den Anteil der Verordnung außerhalb des Indikationsanspruchs, für den ein relevanter Zusatznutzen bestätigt wurde (off-label-use).

Die frühe Nutzenbewertung nach dem AMNOG wurde in einem Positionspapier der pharmazeutischen Industrie in Deutschland indirekt als innovationsfeindlich beschrieben. Hierin fordert der Verband forschender Arzneimittelhersteller e.V. (vfa) den unverzüglichen Patientenzugang zu innovativen Therapeutika im Vergütungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung sicherzustellen und das AMNOG sowie das Verfahren zur frühen Nutzenbewertung neu eingeführter Medikamente weiterzuentwickeln, und generell auf innovationsfeindliche Maßnahmen in der Gesundheitspolitik zu verzichten. Diese Kritik des Herstellerverbandes muss auf der Basis der hier vorgelegten Ergebnisse nachdrücklich
zurückgewiesen werden: Viele Arzneimittel aus der unmittelbaren Prä-AMNOG-Zeit sind therapeutisch gesehen gar nicht innovativ, sie gehören zur Gruppe teurer Me-too-Präparate oder unnötiger Neuausbietungen („ökonomische Innovationen“)! Daher ist auch die möglichst zügige AMNOG-Bewertung des Bestandsmarktes dringend erforderlich. Die derzeitigen Anforderungen im AMNOG können auf Dauer dazu beitragen, den Anteil guter und aussagekräftiger Studien zu erhöhen, damit eine frühe Nutzenbewertung überhaupt positiv überstanden werden kann. Dies würde sich dann letztlich auch positiv auf die Versorgungsqualität der Patientinnen und Patienten und auf die Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung auswirken. In vielen Fällen wird die Frühbewertung lediglich eine vorläufige Bewertung von relativem Nutzen und Zusatznutzen im Vergleich zu anderen Mitteln und Maßnahmen sein können. Oft genug werden Daten aus zusätzlichen Studien nötig sein (sieh auch § 35 b SGB V), um im Rahmen einer Spätbewertung, zum Beispiel nach zwei bis drei Jahren, zu einer besser abgesicherten und möglichst abschließenden Bewertung kommen zu können. Wie der Report zeigt, werden viele Erkenntnisse, auch zur Therapiesicherheit der Arzneimittel, erst in der Zeit nach der Markteinführung gewonnen.
Patientinnen und Patienten benötigen nach wie vor wirkliche therapeutische Innovationen für den Fortschritt in der Behandlung – die Innovationen müssen aber auch einen Zusatznutzen anbieten, zumal dann, wenn sie deutlich teurer sind als die bisher verfügbaren Arzneimittel. Die pharmazeutische Forschung ist daher auch in Zukunft unverzichtbar – und auch die Hersteller wissen: Wer nicht forscht, wird abgehängt! Die Pharmazeutischen Hersteller werden sich aber endlich bei allen Arzneimitteln an die Gleichung gewöhnen müssen: „Money for Value – Value for Money!“ Bis zu 47% der TK-Ausgaben für die neuen Arzneimittel (rd. 8 Mio. Euro) hätten im Untersuchungszeitraum eingespart werden können, wenn gleichwertige bewährte und schon verfügbare Mittel verordnet worden wären. Die Zeiten, in denen neue Arzneimittel allgemein, ob mit oder ohne patientenrelevantem Zusatznutzen, das beste Kapitel der Firmen waren, weil sie die Preise selber festlegen konnten, sind endgültig vorbei. Und wie notwendig die Abschaffung dieses Privilegs war, zeigt der vorgelegte Report in aller Deutlichkeit.

Kontakt
Prof. Dr. Gerd Glaeske
Zentrum für Sozialpolitik (ZeS)
Universität Bremen
gglaeske@zes.uni-bremen.de

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