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Mittwoch, 14. Juni 2006

Non-Compliance bei der Therapie - Patienten befolgen häufig nicht ihre Medikationspläne

Von: Magnus Heier / Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 23

"Gegen hohen Blutdruck? Da nehme ich regelmäßig das da." Die Patientin zeigt dem Notarzt das, was sie für ihr "Blutdruckmedikament" hält: Paracetamol. Ein klassisches Schmerzmittel. Aber auf der Pappschachtel steht "Analgetikum", und die Frau weiß natürlich nicht, daß das nicht "Blutdruckmedikament", sondern "Schmerzmittel" bedeutet. Von dem anderen Medikament, dem, das wirklich gegen hohen Blutdruck hilft, ist die Pappschachtel längst verlorengegangen - und auf der Silberfolie hinter den Tabletten steht nur der Name des Herstellers, kein Wirkstoff und keine Indikation. Weil die 75jährige Patientin weder Medizin noch Griechisch studiert hat und weil sie niemanden hat, der ihr hilft, verwechselt sie die beiden Präparate - wahrscheinlich schon seit Jahren.

So geht es oft. Am Ende einer Kette differenzierter Diagnostik, pharmazeutischer Forschung und individueller Therapiepläne steht ein einfacher Mensch, der Patient. Und er steht dem Mix an Verordnungen, die der Arzt für ihn zusammengestellt hat, nicht selten hilflos oder ängstlich gegenüber. Wenn er dann seine Medikamente nicht nimmt, sprechen Mediziner von "Non-Compliance", wörtlich: fehlende Folgsamkeit.

Viele Patienten überfordert

Die Gründe dafür verstehen die behandelnden Mediziner häufig nicht. Dabei ist offensichtlich, daß viele Patienten überfordert sind, vor allem wenn sie komplizierte Krankheiten haben: So müssen Parkinsonpatienten zahlreiche Medikamente zum Teil nach der Uhr einnehmen. Diabetiker müssen den Blutzuckerspiegel messen, rechnen und dann die richtige Menge Insulin spritzen. Vor allem ältere Patienten müssen oft den Überblick über ein ganzes Schränkchen voller Medikamente behalten. Pharmakologisch sind sie nach allen Regeln der Wissenschaft optimal eingestellt - an der individuellen Wirklichkeit geht ein solcher Therapieplan dagegen oft völlig vorbei.

In Deutschland wird zu viel und zu unüberlegt verschrieben. Tabletten haben oft Bruchrillen, so daß sie sich halbieren oder vierteln lassen. Bei einer Größe von unter einem Zentimeter ist das Millimeterarbeit für ruhige Hände. Wer zittert, der scheitert ziemlich sicher an dieser entscheidenden Aufgabe, wenn die Verordnung etwa „zweimal täglich eine Halbe“ lautet. Zuweilen ist Non-Compliance aber auch die Folge von schlichtem Verdruß, der sich etwa einstellt, wenn man fünf oder zehn verschiedene Medikamente sortieren und schlucken muß und es sich dann vielleicht noch um große Kapseln handelt. Oder wenn die Wirkung des Medikaments erst nach zwei bis vier Wochen einsetzen wird, wie bei Antidepressiva - und der Patient dies nicht weiß und es enttäuscht wegläßt.

4000 Tonnen Pharma-Müll

Als Folge davon landen jährlich 4000 Tonnen an Medikamenten im Müll - aus Hilflosigkeit, Angst, Widerwillen. Bei Langzeitbehandlungen nehmen nur 50 Prozent der Patienten die Medikamente so ein wie vom Arzt verschrieben. Antibiotische Behandlungen werden beendet, wenn das Fieber, die Schmerzen, die Abgeschlagenheit vorbei sind. Oft reduzieren Patienten auch die Menge der Medikamente, einfach weil die Anzahl der Tabletten so beunruhigend groß ist. Oder sie nehmen mehr davon ein, weil die Wirkung nicht einsetzt.

Von zehn Milliarden Euro Folgekosten der Non-Compliance allein in Deutschland spricht die Bundesvereinigung deutscher Apothekerverbände - pro Jahr. Das sind einerseits direkte Folgekosten, vor allem durch Krankenhausaufenthalte, Notarzteinsätze und weggeworfene Medikamente - in der Summe 5,4 Milliarden Euro. So sollen bis zu 25 Prozent aller Krankenhauseinweisungen auf das Konto falscher Medikamenteneinnahmen gehen. Hinzu kommen indirekte Folgekosten für die Gesellschaft, vor allem durch Krankschreibungen, von noch einmal fünf Milliarden Euro. Die volkswirtschaftliche Bedeutung ist evident, die individuellen Folgen können lebensgefährlich sein. Je nach Schwere der Krankheit und Leidensdruck beträgt die Rate der Therapietreue zwischen 20 und 80 Prozent. Frauen befolgen die Empfehlungen konsequenter als Männer, Alte sogar eher als Junge.

Meist ist es Absicht

Die Gründe dafür, daß der Patient am Ende nicht tut, was ihm sein Arzt empfohlen hat, sind vielfältig. Bemerkenswerterweise ist es aber meist kein Versehen, sondern Absicht: In etwa 60 bis 70 Prozent aller Fälle nimmt der Patient die verordneten Medikamente bewußt nicht. Nur in 30 bis 40 Prozent geschieht es versehentlich, etwa aus Vergeßlichkeit oder aufgrund eines Mißverständnisses. Oft berichten Patienten, sie hätten Angst vor dem Medikament - genährt durch einen Beipackzettel, in dem minutiös jede irgendwann einmal beobachtete Nebenwirkung beschrieben wird (und beschrieben werden muß, weil der Gesetzgeber es so fordert). Welcher Patient weiß schon, daß eine "sehr seltene Nebenwirkung" nur in weniger als einem von 1000 Fällen auftritt? Mittlerweile hängen einige Hersteller einen "lesbaren" Beipackzettel für Patienten an, der die Angst vor der Tablette reduzieren soll.

Ein wichtiges Problem ist schlichte Hilflosigkeit: Die Zahl der Medikamente ist oft zu groß, um einen Überblick zu behalten. Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft empfiehlt deshalb als Obergrenze fünf verschiedene Medikamente - die Realität sieht allerdings noch anders aus. Oft nennen Patienten als Grund auch Enttäuschung, das Gefühl, das Medikament hätte nichts bewirkt: Vor allem bei chronischen Erkrankungen ist die Compliance schlecht: Etwa 40 Prozent der Patienten nehmen weniger als die verschriebenen Medikamente ein, zehn Prozent erhöhen die Dosis selbstständig. Sogar nach Medikamentengruppen läßt sich die Compliance unterscheiden: Herzmittel werden äußerst zuverlässig mit 89prozentiger Sicherheit eingenommen. Bei Augentropfen gegen hohen Druck im Augapfel beträgt diese Rate nur noch 42 Prozent - offensichtlich weil Herzkrankheiten als bedrohlicher eingeschätzt werden.

Gestörtes Vertrauen

Der Hauptgrund fehlender Compliance ist allerdings ein gestörtes Vertrauen zwischen Arzt und Patient - eines der ältesten Probleme der Medizin. Schon vor fast 2500 Jahren warnte der Urvater aller Ärzte, Hippokrates, seine Kollegen: "Der Arzt soll sich immer der Tatsache bewußt sein, daß Patienten oft lügen, wenn sie behaupten, daß sie eine bestimmte Medizin eingenommen haben." Bis heute ist es unmöglich, den Patienten zu kontrollieren. Statt dessen wäre eine gute Kooperation nötig. Schon der Wortsinn von "Compliance" allerdings, befolgen oder gehorchen, setzt ein unzeitgemäßes Bild der Arzt-Patienten-Beziehung voraus: Der Arzt befiehlt, der Patient folgt.

Bis zum heutigen Tag: Compliance wird von vielen Ärzten noch immer falsch verstanden. "Viele Ärzte denken, der Patient macht nicht, was ich ihm sage", kritisiert Professor Bruno Müller-Oerlinghausen, Vorstandsvorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft seine Kollegen. "Die Ärzte kapieren nicht, daß es völlig verschiedene Wahrnehmungen zwischen ihnen und dem Patienten gibt." Compliance müsse weniger ein Gehorchen sein als vielmehr eine Annäherung von beiden Seiten. Wer dafür sorgen möchte, daß sein Patient die Behandlung versteht, muß sie ihm erklären. Und wer das tut, muß sich auf die Welt des Patienten einlassen. In der Realität aber wissen 70 Prozent der Patienten schon in dem Moment, da sie das Arztzimmer verlassen, nicht mehr, was der Mediziner ihnen erklärt hat.

Lebenssituation beachten

"Die Länge des Gesprächs ist allerdings nicht entscheidend", sagt Franz Petermann, Direktor des Zentrums für klinische Psychologie der Uni Bremen. "Oft erzeugen lange Gespräche ein eher hilfloses ,Sichwohlfühlen' aber kein Verstehen." Entscheidend sei, daß der Arzt dem Patienten wirklich zuhört und nicht nur so tut. "Wir wissen, daß die Compliance bei Jungendlichen sehr schlecht ist. Ein Jugendlicher will in die Disco, will rauchen, auch wenn er Asthma hat", sagt Petermann. "Wir müssen uns auf deren Lebenssituation einlassen."

Und der Arzt muß sich selbst disziplinieren, auch angesichts ungeliebter Gesundheitsreformen wie der "Aut-idem"-Regelung: Mediziner sind gezwungen, bei wirkstoffgleichen Medikamenten auf das jeweils günstigste auszuweichen. Viele Ärzte reagieren auf diese vernünftige Vorgabe "bockig", sagt Müller-Oerlinghausen. "Statt zu sagen: ,Leider darf ich Ihnen das optimale Medikament nicht verschreiben, weil die Gesundheitsministerin mich dazu zwingt', sollten sie die Regel akzeptieren und dem Patienten versichern, daß das neue Präparat die gleiche Wirkung haben wird, wie das alte." Auf dem Rücken des Patienten jedenfalls sollte man einen medizinpolitischen Konflikt nicht austragen. Denn an ein Präparat, an das der Arzt nicht glaubt, glaubt der Patient schon gar nicht. Und damit ist die Compliance gleich Null. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen.

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