Foto: dpa

Dienstag, 05. Dezember 2006

Mit Arzneimitteln und nicht an Arzneimitteln sparen

Von: Prof. Dr. Gerd Glaeske / Pressemitteilung Bundesregierung

Kein Zweifel, die Arzneimitteltherapie ist die am häufigsten angewandte Behandlung in unserem Gesundheitssystem: 4,3 Millionen Packungen Medikamente werden jeden Tag in Deutschland in den Apotheken verkauft, 365 mal im Jahr. 21 Milliarden Euro Umsatz machten die Hersteller im Jahre 2005 mit ihren 1,6 Milliarden Packungen. Auf 35 Milliarden Euro summiert sich der Endverbraucherpreis in den Apotheken, darin eingeschlossen auch die Margen der Großhändler und die Mehrwertsteuer. 

Der größte Kunde der Industrie ist die gesetzliche Krankenversicherung. Rund 700 Millionen Verordnungen gehen allein zu ihren Lasten. Rund 25 Milliarden Euro kamen da im Jahre 2005 zusammen. Der restliche Umsatz wird mit den Versicherten der Privatkassen gemacht oder beim Einkauf ohne Rezept. Fast 44 Prozent aller Packungen werden ohne die Verschreibung einer Ärztin oder eines Arztes direkt in der Apotheke eingekauft. Der Umsatz alleine für diesen Bereich beträgt 4,5 Milliarden Euro. 

Und der Umsatz steigt von Jahr zu Jahr, mit Ausnahme kurzer Phasen, in denen Kostendämpfungsmaßnahmen drastisch "durchschlugen". Zum Beispiel wurde im Jahre 1993 zum ersten Mal ein Budget im Rahmen der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) eingeführt, mit dem die Ausgaben begrenzt wurden.

Wachstumsstarke Pharmaindustrie


Im Jahre 2005 ist der Umsatz der Pharmaindustrie um "satte" 9 Prozent gewachsen. Sie ist nach wie vor eine der wachstumsstärksten Branchen. Die jährlichen Zuwachsraten liegen deutlich über denen des sonstigen produzierenden Gewerbes. 114.000 Beschäftigte sind in diesem Bereich tätig. Und die Umsatzkonzentration ist hoch in diesem Markt: Auf die 20 umsatzstärksten Hersteller entfallen bereits 60 Prozent des Gesamtumsatzes in der GKV. 

Deutsche Unternehmen fallen dabei mehr und mehr zurück, sie werden im Rahmen von Fusionen häufig von Konzernen aus der Schweiz, Frankreich oder den USA übernommen. So wurde Aventis, das ehemals aus Hoechst und Rhone-Poulenc entstanden war, von dem französischen Unternehmen Sanofi gekauft. Der Konzern heißt heute Sanofi-Aventis. Die Schweizer Firma Novartis hat ebenfalls deutsche Firmen "zugekauft" wie Hexal und 1 A Pharma. Und in der Liste der 2.000 weltweit führenden Unternehmen des Jahres 2005 werden mit Merck und Schering nur noch zwei deutsche Pharmafirmen genannt. Der Markt verändert sich also laufend, die Globalisierung hat auch die Pharmabranche erreicht. Deutschland als "Apotheke der Welt" ist Vergangenheit. 

Nützliches von Unnützem unterscheiden 

Und warum nun immer wieder die Diskussionen um eine Branche, die zuverlässig Arbeitsplätze zur Verfügung stellt? Gewinne macht und Produkte anbietet, die der Behandlung  von Krankheiten dienen? Es ist die Janusköpfigkeit dieser Branche, die zur Kritik führt und über die bereits viele Bücher geschrieben wurden: angefangen von "9 mal teurer als Gold" über "Gesunde Geschäfte" bis hin zum letzten Bestseller "Der Pharma-Bluff". 

Es ist die Geschäftemacherei mit der Gesundheit, es sind die hohen Preise, es sind die Marketingkampagnen und die Bestechung von Ärzten. Das alles stört uns an einer Industrie, die doch in vielen Bereichen mit ihrer Forschung wirksame und nützliche Arzneimittel anbietet. 

Aber es gibt eben auch die Präparate ohne erkennbaren Nutzen, die trotzdem vermarktet und beworben werden und dabei auch noch, trotz ihres hohen Preises, erfolgreich sind. Und es gibt die Präparate, die sich erst eine Krankheit suchen müssen, um angewendet werden zu können (Disease Mongering). Da werden dann auch schon mal die Nebenwirkungen zur Hauptwirkung gemacht: wie zum Beispiel bei einem Mittel zur Behandlung einer vergrößerten Prostata, bei dem als Begleiterscheinung vermehrter Haarwuchs auffiel (Proscar). Es dauerte nicht lange, da wurde dieses Mittel auch als Haarwuchsmittel angeboten (Propecia). 

Neu, aber kein Behandlungsfortschritt

In den letzten Jahren häuft sich die Vermarktung von Produkten, die zwar neu sind, aber keineswegs zum Fortschritt in der Behandlung beitragen. Und das Auffälligste: Sie sind immer deutlich teurer als alle bislang angebotenen Mittel. Neue Medikamente sind in Deutschland das wichtigste Kapital für die Hersteller: Bei denen sind sie nämlich, anders als auf allen anderen großen Pharmamärkten in Europa, völlig frei, den Preis zu bestimmen. Und diese erste Preisbestimmung hat Auswirkungen auf den gesamten Markt: Alle Preisaufschläge, die danach kommen, sind gesetzlich geregelt bis hin zur Mehrwertsteuer.
Auf der einen Seite brauchen wir also die Pharmaindustrie für die Erforschung besserer Behandlungsmöglichkeiten. Und wenn wir es dann mit einer solchen therapeutischen Innovation zu tun haben, sollte die auch trotz eines hohen Preises bezahlt werden. Denn neue Mittel können dazu beitragen, zum Beispiel Operationen oder lange Krankenhausaufenthalte zu vermeiden, die letztlich erheblich teurer sind. In solchen Fällen gilt die Strategie: Mit Arzneimitteln und nicht an Arzneimitteln sparen! 

Auch Ärzte sind gefordert

Nun müssen Ärztinnen und Ärzte ja nicht verschreiben, was ihnen angeboten wird. Sie sollten doch wissenschaftlich und medizinisch so gut ausgebildet sein, dass sie zwischen notwendigen und unnötigen neuen Mitteln unterscheiden können. 

Hier beginnt die dunkelste Seite der Branche, die mit allen möglichen Strategien und Tricks versucht, den Ärzten bestimmte Arzneimittel "in die Feder" zu drücken: 25 Millionen Besuche pro Jahr statten 16.000 Pharmareferenten den Arztpraxen in Deutschland ab. Kosten 2 Milliarden Euro. 

Es gibt Geschenke und Einladungen, überhöhte finanzielle Zuwendungen und Rückvergütungen, die am Verordnungsumsatz der Mittel orientiert sind. Und es gibt Honorare für Studien, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt wurden.

Solche Studien sind immer sehr beliebt bei der Neueinführung von Arzneimitteln: Hier sollen Ärztinnen und Ärzte Patienten auf dieses neue Mittel ein- oder von einem anderen Mittel umstellen und ihre Erfahrungen beschreiben. Die Erfahrungen sind nur bedingt wichtig. Wichtig ist vor allem, dass sich die Ärzte an die neuen Mittel gewöhnen. Und das tun dann auch viele, wenn das Honorar als Anreiz für diese "Gewöhnung" im Hintergrund lockt. Und alles das wird auch über die hohen Preise mitfinanziert. 

Reform wird viele Veränderungen bringen

Die Gesundheitsreform wird hier zu vielen Veränderungen führen. Die wichtigste: Es wird eine Kosten-Nutzen-Bewertung geben, neben der bisherigen Nutzenbewertung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Sie wird dafür sorgen, dass die Preise für Arzneimitteln ohne erkennbaren und nachgewiesenen Zusatznutzen sinken werden. 

Auch die Regelung, von den bisherigen Festpreisen der Arzneimittel auf Höchstpreise umzusteigen, dürfte Bewegung in den Markt bringen. Krankenkassen sollen mehr als bisher nach § 130 a, Abs. 8 des 5. Sozialgesetzbuches (SGB V) über Rabatte mit den Herstellern verhandeln können. Auch das wird die Ausgaben im Arzneimittelbereich für die Kassen senken. 

Hinzu kommt der Anreiz für die Patientinnen und Patienten, von der Zuzahlung befreit zu werden, wenn sie sich für ein besonders preiswertes Mittel entscheiden. 

In der Reform ist eine Zweitmeinungsregel vorgesehen, die bei der Verordnung bestimmter Arzneimittel notwendig ist: zum Beispiel bei teuren Mittel zur Behandlung von Krebs oder Hepatitis C. Mit einer solchen "Begutachtung" vor der Behandlung soll erreicht werden, dass teure oder speziell Präparate auch richtig und sinnvoll eingesetzt werden. Zu den Einsparungen im Arzneimittelbereich wird auch beitragen, dass die Apotheker einen Beitrag zur Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung von 500 Millionen Euro leisten sollen. Diese Einsparungen sollen im Rahmen von Verträgen mit den Kassen zustande kommen. 

Veränderungen konsequent umsetzen

Insgesamt verfolgen die Regelungen der Gesundheitsreform im Arzneimittelbereich das Ziel, die Effektivität und die Effizienz in der Arzneimittelversorgung zu erhöhen. Dies wird auch gelingen, wenn alle nun angedachten Veränderungen in Kraft treten und konsequent umgesetzt werden. 

Es muss einen Wettbewerb um innovative Arzneimittel geben: Wir brauchen die Pharmaindustrie mit ihren Forschungsergebnissen. Wir brauchen sie nicht als Industrie, die unser System mit unnötigen Produkten belastet. Das mag allenfalls die Aktionäre und die Börse freuen, nicht aber die Versicherten und Patienten. Denn die müssen über Beiträge solche unerwünschten Gewinne mitfinanzieren. 

Autor:
Prof. Dr. Gerd Glaeske
Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen
Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen
E-Mail: glaeske@zes.uni-bremen.de

<- Zurück zu: Aktuelle Nachrichten