Ministerin Ulla Schmidt im Deutschen Bundestag / Foto: DBT

Montag, 07. September 2009

Ministerin Ulla Schmidt: "30 bis 50 Krankenkassen reichen aus"

Von: Bundesgesundheits- ministerium / Pressemitteilung

Für Ulla Schmidt gibt es noch Möglichkeiten, im Gesundheits- wesen Geld einzusparen. Im Interview mit dem Weser-Kurier am 15. August 2009 sprach die Bundesgesundheits- ministerin über die Zahl der Krankenkassen, den neuen Ge- sundheitsfonds und die "Schweinegrippe". Lesen Sie dazu das nachfolgende Gespräch.

Weser-Kurier
Deutschland steht wegen der Schweinegrippe vor der größten Impfaktion seiner Geschichte. Einige Mediziner warnen vor Massenhysterie. Zu Recht?

Ulla Schmidt
"Sie haben Recht, denn auch mit dem Auftreten des neuen Grippevirus gibt es Grund zur Sorge, aber keinen Anlass zur Panik. Die Neue Grippe verläuft derzeit noch moderat. Aber die Geschichte der Pandemien zeigt, dass nach einem ersten relativ harmlosen Verlauf eine zweite Welle mit oft schwereren Verläufen kommen kann. Auch diese kann nach dem Sommer aggressiver verlaufen. Deshalb müssen wir vorsorgen."

Weser-Kurier
Vorrangig sollen in einer ersten Welle das medizinische Personal, Menschen mit chronischen Grunderkrankungen und Schwangere geimpft werden. Darüber hinaus kann sich jeder impfen lassen. Aber soll sich auch jeder gesunde Mensch impfen lassen?

Ulla Schmidt
"Ich würde mich nach der ersten Impfwelle der Risikogruppen impfen lassen. Wer geimpft ist, infiziert sich nicht mehr und schützt damit die anderen auch. Selbst wenn nicht alle geimpft sind: Je höher die Durchimpfung, desto größer ist der Schutz für die Gesamtbevölkerung. "

Weser-Kurier
Mit wie viel Geimpften rechnen Sie?

Ulla Schmidt
"Das kann man derzeit nicht genau sagen. Wenn die Grippe weiter so moderat verläuft, werden sich weniger impfen lassen. Experten sagen aber: Im Winter, wenn es bei uns kälter wird, könnte es zu schwereren Fällen oder auch zu Todesfällen kommen. "

Weser-Kurier
Ist der Impfstoff auch wirksam? Manche Wissenschaftler haben Zweifel.

Ulla Schmidt
"Der Impfstoff wird wirksam sein, da ist das Urteil unserer Experten eindeutig. Derzeit finden die klinischen Studien statt, so dass wir davon ausgehen, dass im Herbst die Zulassung erfolgen wird. "

Weser-Kurier
Zur Gesundheitspolitik. Die Arbeitslosigkeit, die vermutlich im Herbst und nächstes Jahr deutlich steigt, wird zu riesigen Löchern in den Sozialkassen führen. Wie soll man die stopfen?

Ulla Schmidt
"Ich kenne die Vorhersagen. Wir bekommen demnächst die Zahlen für das erste Halbjahr, dann sehen wir weiter. Wir gehen derzeit davon aus, dass die Kassen nach wie vor einen Überschuss haben. Mag sein, dass es im dritten und vierten Quartal schlechter wird. Der Staat wird auf jeden Fall für krisenbedingte Einnahmerisiken einstehen und einen zinslosen Kredit gewähren, falls erforderlich. Für mich ist sicher: Das Geld, das dieses Jahr für die medizinische Versorgung benötigt wird, ist auf jeden Fall da. Niemand muss befürchten, er bekommt die Versorgung nicht."

Weser-Kurier
2009 und 2010 gibt es notfalls zinslose Kredite aus dem Hause von Finanzminister Steinbrück. Die sollen 2011 zurückgezahlt werden. Was dann? Höhere Beiträge? Oder Leistungen kürzen?

Ulla Schmidt
"Leistungskürzungen will die SPD nicht. Und bei Beitragsanhebungen reagiert der Gesetzgeber immer sehr sensibel: Er versucht, das zu vermeiden. Keiner weiß heute, wie die wirtschaftliche Entwicklung in 2011 ist. Klar ist, dass sich der Steuerzuschuss für die Kassen jährlich um 1,5 Milliarden Euro erhöht, bis die geplanten 14 Milliarden Euro erreicht sind. Aber darüber hinaus ist auch klar: Das Gesundheitswesen muss noch effizienter werden."

Weser-Kurier
Wo schlummern Effizienzreserven?

Ulla Schmidt
"Die Kassen müssen die vorhandenen Instrumente nutzen, um günstiger zu wirtschaften. Nehmen Sie die Arzneimittelrabatte der AOK: Das ergibt eine Milliarde Euro in zwei Jahren. Zweitens setze ich darauf, dass die Kassen noch stärker fusionieren als heute. Immerhin haben die geplanten Zusammenschlüsse in diesem Jahr dazu beigetragen, dass auch Kassen, die in einer finanziell schwierigen Situation sind, keinen Zusatzbeitrag fordern mussten. Der Zusatzbeitrag wirkt beitragssatzstabilisierend, denn ehe die erste Kasse einen Zusatzbeitrag erheben wird, wird sie alles tun, um durch eine bessere Organisation, besseren Service, bessere Versorgungsverträge mit den Anbietern medizinischer Leistungen oder auch durch Fusionen genau dies zu vermeiden. Zurzeit gibt es noch 187 Kassen, aber weitere werden fusionieren. 30 bis 50 Kassen reichen nach meiner Auffassung aus, damit die Menschen genügend Wechselmöglichkeiten haben. Und ich bin sicher, dahin wird der Weg gehen."

Weser-Kurier
Genügt das alles?

Ulla Schmidt
"Nein. Wir müssen noch stärker das Einsparpotenzial im Arzneimittelsektor nutzen. Die Kosten-Nutzen-Bewertung muss endlich wirken. Wenn zum Beispiel ein neues Medikament auf den Markt kommt, darf es nur dann mehr kosten, wenn der Nutzen größer ist als bei den bestehenden. Wenn ein neues Medikament nur fünf Prozent mehr nutzt, darf es nicht 300 Prozent mehr kosten. Der Preis muss in einem fairen Verhältnis zum Nutzen stehen. Zweitens: Die Zusammenarbeit, Kommunikation, Kooperation zwischen den verschiedenen Bereichen im Gesundheitswesen muss verstärkt werden. Da steckt eine Menge Potenzial drin. Die Gesundheitsversorgung wird dadurch nicht weniger kosten, aber wir können das Mehr an Leistungen besser finanzieren."

Weser-Kurier
Wie ist Ihre Bilanz der letzten vier Jahre?

Ulla Schmidt
"Wir haben viel erreicht, zum Beispiel, dass alle Menschen einen Rechtsanspruch auf einen Versicherungsschutz haben. Wir haben erreicht, dass auch die Private Krankenversicherung ihren Versicherten einen Basistarif anbieten muss. Wir haben den Gesundheitsfonds eingeführt mit einem neuen Risikostrukturausgleich, der wirklich das Geld dorthin bringt, wo mehr ältere und kranke Menschen sind. Der Fonds funktioniert. Und wir haben eine Krankenhausfinanzierungsreform und die Reform der Pflegeversicherung auf den Weg gebracht, die beide Arbeitsplätze schaffen und sichern – in der Krankenpflege und in der Altenpflege."

Weser-Kurier
Und was steht auf der Sollseite?

Ulla Schmidt
"Das Präventionsgesetz. Das hat der Koalitionspartner, die CDU/CSU-Fraktion, verhindert. Dabei wäre es dringend erforderlich. Richtig ist, dass wir heute viel an individueller Prävention anbieten. Aber wir müssen in die Lebenswelten, in die Kindergärten, in die Schulen, in die Stadtteile, wir müssen dorthin, wo wir die Menschen aufsuchen. Wenn sich Kinder etwa jeden Tag eine halbe Stunde mehr bewegen, lernen sie besser und sind konzentrierter. Und vor Ort sind viele, die das organisieren wollen, zum Beispiel Sportverbände oder Selbsthilfeorganisationen und viele andere mehr. Aber die brauchen verlässliche Strukturen. Zweitens wollten wir die solidarische Finanzierung des Gesundheitswesens ausweiten. Ich bin davon überzeugt, dass nur wenn alle Risiken für einander einstehen, eine hochwertige Gesundheitsversorgung gesichert werden kann. Die Trennung in privat und gesetzlich Versicherte, abhängig vom beruflichen Status oder dem Einkommen, ist ein Anachronismus. Die Bürgerversicherung ist das Ziel für die nächste Legislaturperiode."

Weser-Kurier
Gesundheitsminister zu sein – das ist der unbeliebteste Job in der Regierung. Sie machen das nun schon mehr als acht Jahre, so lange wie kein Vorgänger. Sind Sie masochistisch veranlagt?

Ulla Schmidt
(lacht) "Nein, das bin ich ganz sicher nicht. Aber ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt, sich für eine gute Gesundheitsversorgung einzusetzen. In diesem Ressort muss man jeden Tag von morgens bis abends kämpfen. Man muss immer neu den Ausgleich der Interessen herstellen und hat in der Regel wenig Unterstützung. Aber trotzdem mache ich es gerne, weil es eine unheimlich spannende Arbeit ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich Sonderpädagogin bin."

Weser-Kurier
Über wen haben Sie sich am meisten geärgert: Über die Funktionäre der Kassen, der Ärzte oder die Pharmalobbyisten?

Ulla Schmidt
"Jeder Verband war sicher mal dabei. Ich finde aber, es gehört zur Demokratie, dass wir uns streiten und unterschiedliche Interessen haben. Was mich wirklich ärgert und wütend macht, ist, wenn der Protest mancher Ärzte in die Praxen getragen wird und kranke Menschen, die zum Arzt gehen, damit konfrontiert werden. Hier wird der Kampf auf dem Rücken der Patienten ausgetragen."

Weser-Kurier
Sie sagen, in der Krise sind sozialdemokratische Antworten besonders gefragt. Warum steht die SPD dann so schlecht da?

Ulla Schmidt
"Wir müssen unsere Anhänger überzeugen, tatsächlich auch wählen zu gehen. Diese Menschen müssen wir für uns gewinnen. Und die SPD kann kämpfen. Sie war im Endspurt immer gut."

Interview: Norbert Pfeifer

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