Dietrich Grönemeyer, 53, Professor für Radiologie und Mikrotherapie der Universität Witten/Herdecke und Leiter eines interdisziplinären Instituts, Bochum. „Lebe mit Herz und Seele“ heißt sein gerade erschienenes Buch.

Montag, 04. September 2006

Mediziner Grönemeyer fordert mehr Freiheit im Gesundheitswesen

Von: Interview in der WirtschaftsWoche

Im Interview mit der Wirtschaftswoche: Der Mediziner Dietrich Grönemeyer über die Befreiung des Gesundheitswesens von staatlichem Einfluss und den Exportschlager "med. in Germany".

WirtschaftsWoche: Herr Grönemeyer, Sie sind Arzt, Forscher und Unternehmer. Wie beurteilen Sie die Regierungspläne zur Gesundheitsreform?

Grönemeyer: Die politische Debatte geht in die falsche Richtung. Manisch schauen alle Beteiligten nur auf die Kosten des Gesundheitssystems, es gibt eine panische Angst vor Leistungsausweitung. Vom Patienten, der eigentlich im Mittelpunkt stehen sollte, spricht niemand mehr. Medizinische Inhalte, die Qualität, der Nutzen und vor allem die Chancen der deutschen Gesundheitswirtschaft als Exportschlager geraten völlig aus dem Blick. Dabei brauchen wir Aufbruchstimmung, Leidenschaft und eine Ideenexplosion in dieser Branche.

WirtschaftsWoche: Die Politik steckt jedoch in dem Dilemma, dass Mehrausgaben im Gesundheitswesen steigende Sozialabgaben bewirken, die Arbeit teurer machen und Arbeitsplätze kosten...

Grönemeyer: Einverstanden, aber die Lösung kann nicht sein, dass wir die deutsche Gesundheitswirtschaft, in der heute über zwölf Prozent aller Erwerbstätigen beschäftigt sind, ausbremsen. Das ist die Wachstumsbranche Nummer eins in diesem Lande. Dort schlummern Potenziale, die den Deutschen nicht nur eine qualitativ hochwertige Versorgung, sondern auch Exportartikel, Steuereinnahmen und Arbeitsplätze bringen können. Es ist frustrierend, dass die Politik es nicht schafft, die Krankenkassenbeiträge vom Lohn abzukoppeln.

WirtschaftsWoche: Ist der Einfluss des Staates auf das Gesundheitswesen zu hoch?

Grönemeyer: Ja, eindeutig. Mit ihrer Politik schadet die Bundesregierung dem Kapital Gesundheit – im menschlichen wie im ökonomischen Sinne. Der Staat versucht, Herr zu werden über die Menschen, indem er bestimmt, was Gesundheit ist und was der Patient braucht. Damit sind wir auf dem besten Weg zur Einheitskasse mit mittelmäßiger Medizin und endlosen Wartezeiten für Operationen und moderne Diagnostik. Der Staat sollte sich aus medizinischen Inhalten heraushalten. Das Wissen in diesem Bereich verdoppelt sich alle fünf Jahre, da kommen Politiker nicht mit. Insofern freue ich mich, dass die Krankenkassenvorstände gegen die Reformpläne aufstehen. Sie zeigen Rückgrat für Deutschland.

WirtschaftsWoche: Welche Therapie würden Sie dem deutschen Gesundheitswesen verordnen?

Grönemeyer: Wir brauchen mehr Transparenz und Liberalisierung statt staatlicher Knebelung. Der Staat soll vor allem sozial schwache Personen absichern, damit auch diese alle Leistungen in Anspruch nehmen können. Ich will keine Zwei-Klassen-Medizin, ich bin aus Überzeugung gesetzlich versichert. Aber am Ende profitieren alle davon, wenn wir den Markt entfesseln!

WirtschaftsWoche: Was heißt das denn konkret?

Grönemeyer: Es sollte Wettbewerb zwischen Kassen, Ärzten und Krankenhäusern geben. Alle Anbieter müssten um den Patienten mit hochwertigen Produkten konkurrieren. Die gesetzlichen Krankenkassen sind heute Zwangsveranstaltungen ohne Mitspracherecht der Versicherten, deren Beiträge automatisch eingezogen werden. Sie sollten sich in Richtung private Versicherungen bewegen, die unterschiedliche Leistungen anbieten. Ob Teilkasko, Vollkasko, Selbstbehalte – wir brauchen mehr Vielfalt, das geht bei den jetzigen Vorschlägen alles nicht weit genug. Jeder Versicherte müsste sich für individuelle Leistungspakete zwischen High Tech und Naturheilkunde entscheiden können. Die Medizin ist der letzte regulierte Markt, während wir Energie, Bahn und Wasserwirtschaft privatisieren. Ich verstehe nicht, warum wir im Gesundheitsbereich nicht dasselbe tun.

WirtschaftsWoche: Wenn Sie von Teilkasko sprechen, meinen Sie wohl eine Grundsicherung. Was sollte die enthalten?

Grönemeyer: Man könnte jetzt einen Schnitt machen und sagen: Was heute im Leistungskatalog der Kassen drin ist, gehört weiter dazu. Aber was an neuen Erkenntnissen und Therapiemöglichkeiten dazukommt, sollte jeder zunächst selbst versichern. Sobald die Wirksamkeit der Verfahren oder Medikamente eindeutig wissenschaftlich bewiesen ist, fließen sie in die Grundsicherung ein. In einem solchen System hätten Unternehmen viel größere Anreize, "med. in Germany" voranzubringen...

WirtschaftsWoche: ...der Exportschlager, von dem Sie sprechen?

Grönemeyer: Ja, und die Potenziale sind groß. Wir sind wirklich stark in der Medizin und können das Gesundheitsland der Welt sein – mit unseren großen Traditionen. Wir sollten vorbildlich die Medizin weiterentwickeln und können daraus Prosperität und Wohlstand schaffen. Dabei ist Gesundheitswirtschaft made in Germany viel mehr als nur die Versorgung der Patienten, über die wir heute immerzu reden. Gesundheit heißt Wohlbefinden an Körper, Seele und Geist. Dazu gehören auch Physiotherapie, Ayurveda, Mikrotherapie oder Naturheilverfahren. Wir müssen uns fragen, was der Patient konkret braucht, um gute Lebensqualität und Wohlbefinden zu erhalten oder wieder zu erlangen. Nicht über Kosten, sondern über Versorgungsqualität müssen wir reden. Dann setzt sich gute Medizin durch, die sich auch exportieren lässt.

WirtschaftsWoche: Welche Produkte oder Verfahren könnten Deutschlands Exportschlager werden?

Grönemeyer: In der Medizintechnik sind wir hervorragend aufgestellt, die weltweiten Wachstumsraten in diesem Bereich liegen bei fünf bis sechs Prozent. Deutsche Bildgebungsverfahren sind weltweit und besonders in den USA hoch begehrt, etwa die Kernspintomografie. Führend sind wir auch bei Transplantationstechniken und bei den besonders gewebeschonenden Eingriffen mit Miniaturinstrumenten, der Mikrotherapie, der Züchtung und Implantation von Gewebe oder bei der Entwicklung von entzündungshemmenden Medikamenten aus Eigenblut. Da sind wir Jahre voraus, nur weiß das kaum einer. Hochwertig sind auch unser Instrumentenbau, unsere IT-Netzwerke oder Software für die Medizin. Selbst die naturheilkundlichen oder Wellness-Produkte sind Felder, in denen unsere Wirtschaft gutes Geld verdienen könnte und Refinanzierungspotenzial liegt.

WirtschaftsWoche: Was sollen innovative Firmen tun, um diese Wachstumschancen wahrzunehmen?

Grönemeyer: Ich sage den kleinen Firmen immer, wartet nicht darauf, dass ihr hier in Deutschland eure Verfahren verkaufen könnt, das dauert viel zu lange. Ich habe zum Beispiel die katheterlose, ambulant durchzuführende Untersuchung der Herzkranzgefäße am Computertomografen 1991 in Deutschland eingeführt. Doch bis heute gibt es in der Krankenkasse keine Abrechnungsziffer dafür. Innovative Firmen sollten deshalb gleich auf Auslandsmärkte abzielen. Da sitzen die Abnehmer der Zukunft, von dort bekommen sie auch eher Kapital. Hier sind die Banken und Investoren oft skeptisch, weil sich das Produkt in Deutschland nicht oder schlecht verkaufen lässt. Gerade an dieser Stelle ist die Politik gefordert, die Mittelstandspolitik, die Innovations- und Exportförderung.

WirtschaftsWoche: Hat sich das Angebot von Venture Capital in Deutschland nicht verbessert?

Grönemeyer: In der Medizintechnik nur zum Teil, vieles geht hier noch zu langsam. Viel Kapital wird aus Angst oder fehlendem Mut nicht investiert. In den USA gibt es viel mehr Schwung, Ausgründungen aus der Universität sind dort leichter. Durch diese Defizite haben wir hier schon einige Innovationen verschlafen.

WirtschaftsWoche: Welche meinen Sie?

Grönemeyer: Zum Beispiel die Endoskopie, also die Rohre oder Schläuche, mit denen man in den Körper hineinsehen und kleine Eingriffe vornehmen kann. Heute beherrschen die Japaner 80 Prozent des Marktes im Bereich flexibler Endoskopie. Ähnlich bei den Ballonkathetern fürs Herz, Lasern oder modernen Hüftprothesen – alles deutsche Erfindungen, die zu Produktionen in Deutschland hätten führen können, nun aber im Ausland hergestellt werden.

WirtschaftsWoche: Woran genau lag das?

Grönemeyer: Da gibt es viele Gründe: Unkenntnis, industrielle und politische Fehlentscheidungen, hierarchische Machtstrukturen. Hinzu kommt, dass die Deutschen den fröhlichen Wettbewerb ohnehin nicht sonderlich schätzen. Man kann doch nicht mit einem Schlauch in den Magen gucken, hieß es damals. Oder sich Fahrradspeichen ins Herz schieben – so wurden die Erfinder des Herzkatheters belächelt. Wo so viel Dünkel herrscht, findet man schwer Geldgeber. Und wenn dann keine Aussicht besteht, dass die Leistung später von den Krankenkassen bezahlt wird, erst recht nicht. Heute müssen wir Produkte, die aus unserem Know-how entstanden sind, aus dem Ausland einkaufen – ungeheuerlich!

WirtschaftsWoche: Haben Sie das auch bei der von Ihnen mitentwickelten Mikrotherapie erlebt?

Grönemeyer: Ja. Ich habe 1988 den weltweit ersten Eingriff in einem offenen Kernspintomografen vorgenommen. Damals habe ich bei einem Patienten Tumorgewebe mit Hitze vernichtet und gleichzeitig mit gezielt platzierten Medikamenten die Schmerzen genommen. Auch habe ich damals schon mit Mikroendoskopie im Tomografen operiert und Bandscheiben gelasert. Diese Verfahren wurden damals von der etablierten Medizin völlig abgelehnt mit der Begründung, sie seien nicht zielführend und zu teuer. Inzwischen können Ärzte mikrotherapeutische Leistungen zwar über die Krankenkassen abrechnen, doch die Honorare sind nicht adäquat. Die meisten Kassenvertreter sehen nur, dass moderne Behandlungen auf den ersten Blick teurer erscheinen. Dabei zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass es oft genau umgekehrt ist: Der technische Fortschritt führt auf Dauer zu geringeren Ausgaben.

WirtschaftsWoche: Das sollten Sie Bundeskanzlerin Angela Merkel erklären, die die steigenden Kassenbeiträge damit begründet, dass der technische Fortschritt alles verteuere.

Grönemeyer: Es gibt gute Beispiele, die zeigen, dass der Fortschritt vieles auf Dauer preiswerter macht. Dazu dürfen Sie aber nicht nur aufs Quartal schauen, sondern müssen das ganze Leben eines Menschen betrachten. Schon 1991 habe ich der AOK geraten, die schnelle Herzuntersuchung via Computertomografen einzuführen, damit ließen sich wahrscheinlich 30 Prozent der Herzkatheteruntersuchungen einsparen – doch nichts ist passiert.

WirtschaftsWoche: Sicher nicht Ihr einziges Beispiel?

Grönemeyer: Nein, nehmen Sie die Digitalisierung. Wenn Sie Tomografiebilder am Bildschirm anschauen und interpretieren können und man sie anderen Ärzten digitalisiert übers Netz schicken kann, dann lassen sich Doppel- und Dreifachuntersuchungen vermeiden. Meine Vision ist: Krankenversicherungen beteiligen sich mit Investitionen an Firmen, die solche innovativen Verfahren entwickeln. Dann könnten sie ihre Versicherten qualitativ hochwertig versorgen und gleichzeitig an einem exportfähigen, modernen Produkt verdienen. Ich kenne Kassenchefs, die hocherfreut wären, wenn sie zehn Prozent ihres Budgets für solche Innovationen oder die Forschung daran ausgeben könnten, aber dies ist in unserem System ja undenkbar.

WirtschaftsWoche: Das klingt nicht gerade nach Aufbruchstimmung.

Grönemeyer: Wir sollten nicht mehr ausschließlich auf das hören, was in der Politik läuft, sondern mit Begeisterung und Kreativität die eigenen Stärken stärken. Und es gibt ja auch schon Regionen, wo die Gesundheitswirtschaft einen hohen Stellenwert hat, etwa in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Berlin-Brandenburg oder Schleswig-Holstein. Dort wird medizinische Versorgung verbunden mit Medizintechnik, Instrumentenbau, Biotechnologie, Ernährung bis hin zum Gesundheitstourismus. Jammern hilft nichts. Krisenhafte Zeiten bergen immer auch die Möglichkeiten des Neubeginns. Friedrich Hölderlin hat einmal gesagt: Wo Gefahr ist, wächst auch das Rettende.

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