
(Foto: von li. nach re. vorne: Prof. Peter Bofinger, Prof. Wolfgang Franz (Vors.) | dahinter: Prof. Lars P. Feld, Prof. Christoph M. Schmidt, Prof. Claudia M. Buch) Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist ein Gremium der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung. Er wurde durch Gesetz im Jahre 1963 eingerichtet mit dem Ziel einer periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit. Er ist in seinem Beratungsauftrag unabhängig. Seine Ausführungen und Konzeptionen sind seitdem ein wesentlicher Bestandteil der wirtschaftspolitischen Diskussion in Deutschland und haben die politische Entscheidungsfindung merklich beeinflusst.
Jahresgutachten 2012/13 der Wirtschaftsweisen: "GKV - Reformen sind notwendig"
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat am 7. November sein Jahresgutachten 2012/13 vor. Es trägt den Titel "Stabile Architektur für Europa – Handlungsbedarf im Inland". Im Siebten Kapitel des Gutachtens "Soziale Sicherung: Weiterhin Reformbedarf trotz guter Finanzlage" wird die Entwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherungen erörtert.
GKV: Reformnotwendigkeiten trotz Überschüssen
Obwohl die finanzielle Lage der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Jahr 2012 nach wie vor erfreulich ist, muss in den kommenden Jahren mit einem spürbaren Ausgabenanstieg gerechnet werden, der durch einen entsprechenden Einnahmeanstieg finanziert werden muss. Eine Weiterentwicklung der Zusatzbeiträge hin zu einem einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeitrag sollte die Finanzierung der GKV sicherstellen. Dies wäre ein Schritt in Richtung der nach wie vor vom Sachverständigenrat präferierten Bürgerpauschale, dürfte sich positiv auf Wachstum und Beschäftigung auswirken und zudem den Wettbewerb unter den Krankenkassen erhöhen. Damit der intensivierte Kassenwettbewerb möglichst starke Ausgaben dämpfende Effekte entfaltet, sind zudem ausgabenseitige Reformen notwendig. Dazu zählen: die stärkere Nutzung von Selektivverträgen im ambulanten und stationären Bereich, die monistische Krankenhausfinanzierung sowie die bereits beschlossene Anwendung des Wettbewerbsrechts auf Krankenkassen.
Weitere Details in den nachfolgenden Auszügen
Im Hinblick auf die vorgeschlagene Abschaffung der Praxisgebühr ist das Argument der Befürworter zwar zutreffend, dass diese die angestrebte Lenkungswirkung nicht in dem erhofften Ausmaß entfaltet. Die Zahl der Arztkontakte lag in Deutschland im OECDVergleich im Jahr 2010 mit 8,9 Arztkontakten nach wie vor über dem Durchschnitt von 6,4 Arztkontakten. Allerdings ist die Schlussfolgerung, die Praxisgebühr deshalb abzuschaffen, nicht zwingend: Anstatt über ihre Abschaffung zu diskutieren, sollte vielmehr darüber nachgedacht werden, wie diese zielführend weiterentwickelt werden kann. So könnte beispielsweise je Arztbesuch eine geringere als die bisherige Gebühr bis zu einer Belastungsobergrenze erhoben werden. Die Krankenkassen könnten auf Basis der Abrechnung durch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) die Gebührensumme quartalsweise bis zur maximal erlaubten Höhe den Versicherten in Rechnung stellen. Dadurch würde eine größere Lenkungswirkung entfaltet, weil jeder zusätzliche Arztbesuch mit weiteren Kosten für den Patienten verbunden wäre.
Mit dem Aufbau einer Demografiereserve sollen zukünftig notwendig werdende Einnahmeerhöhungen gedämpft oder hinausgezögert werden. Dies setzt allerdings voraus, dass politischen Begehrlichkeiten – zum Beispiel im Sinne von Leistungsausweitungen –, die eine derartige Reserve zwangsläufig wecken würde, nicht nachgegeben wird. Nur dann kann eine Demografiereserve Bestand haben und als solche genutzt werden. Dass dies gelingt, darf man durchaus bezweifeln. Diese Skepsis belegt beispielsweise die aktuelle Diskussion um eine Mindestabsicherung in der Gesetzlichen Rentenversicherung (Ziffern 649 ff.), die gleichfalls vor dem Hintergrund der guten finanziellen Ausstattung dieser Sozialversicherung geführt werden. Zudem könnten die im Herbst des Jahres 2012 erzielte Einigung im Honorarstreit mit der Ärzteschaft, ebenso wie die temporäre Absenkung des Bundeszuschusses zum Gesundheitsfonds im Jahr 2013, als Signale dafür verstanden werden, dass der langfristige Erhalt einer Demografiereserve unrealistisch ist. Schließlich ist es nicht die Aufgabe einer umlagefinanzierten Sozialversicherung, Reserven aufzubauen, die über den Umfang notwendiger Liquiditätsreserven hinausgehen.
Die aktuell angehäuften Überschüsse sollten daher nicht weiter ausgebaut, sondern vielmehr an die Beitragszahler zurückgegeben werden. Dies ist grundsätzlich über Prämien, die von den Krankenkassen an die Versicherten ausgeschüttet werden, oder eine Beitragssatzsenkung möglich. Beides könnte durch eine Gesetzesänderung erreicht werden. Eine gesetzliche Anweisung der Krankenkassen zur Ausschüttung von Prämien würde jedoch einen erheblichen Eingriff in die Vertragsautonomie darstellen, sodass eine Beitragssatzsenkung vorzuziehen wäre. Allerdings hat eine große gesetzliche Krankenkasse inzwischen angekündigt, für das Jahr 2012 Prämien an ihre Versicherten auszuschütten. Weitere Krankenkassen dürften diesem Beispiel folgen. Gleichwohl könnte eine Beitragssatzsenkung so gesetzlich verankert werden, dass die aus Sicht des Sachverständigenrates wünschenswerte flächendeckende Einführung von Zusatzbeiträgen beschleunigt würde (Ziffern 598 ff., JG 2011 Ziffer 547).
Dies ließe sich durch zwei aufeinander folgende Maßnahmen erreichen: Erstens müssten die neuen, sich nach der Absenkung ergebenden Beitragssätze für Arbeitgeber und Arbeitnehmer festgeschrieben werden. Danach müsste zweitens die bestehende Regelung, dass sich zukünftig ergebende Ausgabenerhöhungen über kassenindividuelle und einkommensunabhängige Zusatzbeiträge finanziert werden, entsprechend angepasst und umgesetzt werden. Im Anschluss sollten die Zusatzbeiträge dann schrittweise weiterentwickelt werden. Idealerweise würde am Ende dieses langfristig angelegten Vorgehens die vom Sachverständigenrat präferierte Bürgerpauschale stehen (Kasten 23, Seite 360).
Bei der zu empfehlenden Beitragssatzsenkung ist erstens zu bedenken, dass die Beitragseinnahmen in den Gesundheitsfonds fließen und von diesem über Zuweisungen an die Krankenkassen weitergegeben werden. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass sich die Reserven der Gesetzlichen Krankenkassen sehr ungleichmäßig auf die einzelnen Krankenkassen verteilen. Letzteres kann als Begründung dafür dienen, dass nur die Reserven des Gesundheitsfonds von derzeit 9 Mrd Euro für die Beitragssatzsenkung herangezogen werden sollten. In diesem Fall dürfte lediglich eine Absenkung des Beitragssatzes um 0,4 Prozentpunkte bis maximal 0,5 Prozentpunkte möglich sein, da gemäß § 271 Absatz 2 SGB V im Gesundheitsfonds eine Liquiditätsreserve verbleiben muss, die sich aktuell auf etwa 3 Mrd Euro beläuft. Der dadurch ausgelöste Impuls zur flächendeckenden Einführung kassenindividuell zu erhebender Zusatzbeiträge könnte noch verstärkt werden, wenn zu den Reserven des Gesundheitsfonds diejenigen der Krankenkassen für eine Beitragssatzsenkung herangezogen werden. In diesem Fall stünden abzüglich der notwendigen Liquiditätsreserven von Fonds und Krankenkassen (§ 261 Absatz 2 SGB V) gut 10 Mrd Euro zur Verfügung, mit denen voraussichtlich eine Beitragssatzsenkung von gut einem Prozentpunkt finanziert werden könnte. Dies hat Nachteile, die sich aus der sehr unterschiedlichen Verteilung der Reserven auf die einzelnen Krankenkassen ergeben. Eine Beitragssatzsenkung von 0,4 Prozentpunkten bis maximal 0,5 Prozentpunkten dürfte politisch leichter vermittelbar sein.
Die finanzielle Lage der GKV ist derzeit zwar gut. Angesichts der demografischen Entwicklung und des technischen Fortschritts in der Medizin ist jedoch in den kommenden Jahrzehnten mit einem spürbaren Anstieg der GKV-Ausgaben zu rechnen, die gemäß den gesetzlichen Vorgaben durch einen entsprechenden Anstieg der Einnahmen gedeckt werden müssen. Hierbei ist von entscheidender Bedeutung, dass die Einnahmen auf eine Art und Weise finanziert werden, die Wachstum und Beschäftigung möglichst wenig beeinträchtigt und sich zudem positiv auf den Wettbewerb im Gesundheitssystem auswirkt. Vor diesem Hintergrund ist die vom Sachverständigenrat konzipierte Bürgerpauschale nach wie vor die aktuell beste Finanzierungsalternative. Aufgrund der absehbaren politischen Schwierigkeiten einer hierfür nötigen Reform setzt der Sachverständigenrat auf die flächendeckende Einführung von Zusatzbeiträgen und deren Weiterentwicklung. Dies ist somit als erster Schritt in Richtung der Bürgerpauschale anzusehen. Ziel der Weiterentwicklung i st es, den einkommensunabhängigen Beitragsbestandteil des Arbeitnehmers schrittweise auf 100 % zu erhöhen und, wie bereits aktuell gesetzlich verankert, ab einer Belastung von 10,2 % des sozialversicherungspflichtigen Einkommens sozial auszugleichen. Im Rahmen von Simulationsrechnungen kann gezeigt werden, dass ein zeitnaher Beginn und eine zügige Umsetzung der Anhebung der Zusatzbeiträge aus Wachstums- und Beschäftigungsaspekten vorzuziehen ist (Kallweit und Kohlmeier, 2012). Bei einer Umsetzung innerhalb des Zeitraums der Jahre 2015 bis 2025 ergäben sich im Jahr 2030 ein um gut 1 % höheres Arbeitsvolumen und ein um etwa 1 % höheres Bruttoinlandsprodukt als im Status quo; langfristig dürfte das Bruttoinlandsprodukt sogar um etwa 1,3 % höher liegen. Darüber hinaus werden die sich im GKV-System befindenden versicherungsfremden Umverteilungsströme teilweise in das Steuersystem verlagert. Zudem gehen von einem einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeitrag deutliche Preissignale aus, die im Hinblick auf mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen wünschenswert sind.
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