Leiter des IQWiG Prof. Dr. med. Peter T. Sawicki (Foto: IQWiG)

Dienstag, 10. November 2009

IQWiG bezieht Position für solidarische Kranken- versicherung: Solidarprinzip ist zentrale Triebkraft

Von: IQWiG / Presse- mitteilung

Als Beitrag zur derzeit lebhaft geführten Debatte um die anstehende Gesundheitsreform in den USA hat der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesund- heitswesen (IQWiG) jetzt ein Plädoyer für einen allgemeinen Zugang zu Gesundheitsleitungen im renommierten "New England Journal of Medicine" veröffentlicht. Entstanden ist der Artikel nach mehreren Vortragsreisen, die Peter Sawicki auf Einladung von US-Gesundheitspolitikern unternommen hat, um über das deutsche Gesundheitssystem zu referieren und zu diskutieren. Eine solidarische Absicherung von wis- senschaftlich begründeten Gesundheitsleitungen für alle ist laut Sawicki die zentrale Triebkraft für ein gut funktionier- endes und effizientes Gesundheitssystem.

Solidarität ist nüchtern kalkulierte Vernunft

"Solidarität ist keine sozial-romantische Träumerei, sondern nüchtern kalkulierte Vernunft", sagt Sawicki. "Solidarprinzip heißt, die Interessen des Einzelnen gegen die der Gemein- schaft abzuwägen." Denn es garantiere dem Einzelnen alles, was für ihn objektiv notwendig ist, um seine Erkrankung zu heilen, eine Verschlimmerung zu verhindern oder Beschwerden zu lindern. So steht es im Sozialgesetzbuch.

Das Solidarprinzip fordere jedoch auch, dass die Kosten in einem vertretbaren Verhältnis zum Nutzen stehen müssen und beziehe damit die Perspektive der Gemeinschaft ein. Auch dies ist gesetzlich festgelegt. "Das Solidarsystem sorgt durch dieses Spannungsverhältnis für eine Konstellation, deren rationale Konsequenz ein wissenschaftlich basiertes Gesundheitssystem ist", so Sawicki. "Solidarität verpflichtet dazu, nüchtern zwischen dem zu unterscheiden, was nutzt und was nicht nutzt."

Nutzenbewertung schützt Solidarsystem vor Missbrauch

Ein solidarisches System könne nur dann auf Dauer funktionieren, wenn die Entscheidung darüber, was notwendig und wirtschaftlich ist, mit soliden, objektiven wissenschaftlichen Methoden vorbereitet werde. Laut Sawicki ist es deshalb auch kein Zufall, dass praktisch alle europäischen Länder mit solidarischem Gesundheitssystem eine Form der Nutzenbewertung haben. "Sie ist ein Wächter, die Solidarität gegen Missbrauch und die Patienten vor Schaden zu schützen", ist sich Sawicki sicher.

Viele Fehlinformationen über das europäische Gesundheitssystem

Die USA sind ein Beispiel, dass Marktkräfte und Zersplitterung der Solidarität keineswegs die Kosten begrenzen und die Qualität verbessern: Die Gesundheitsausgaben in den USA sind deutlich höher und die Versorgung ist für breite Teile der Bevölkerung wesentlich schlechter. Die neue US-Regierung plant deshalb zum einen eine allgemeine Krankenversicherung nach europäischem Muster einführen. Zum anderen soll die Nutzenbewertung (Comparative Effectiveness Research, CER) im Rahmen des Konjunkturprogramms gefördert werden. Trotz der Defizite des US-amerikanischen Systems stoßen beide Vorhaben jedoch auf heftigen Widerstand. Eine Rolle spielt dabei auch, dass es in den USA viele Vorurteile und Fehlinformationen über das europäische Gesundheitswesen gibt. Dem will der Artikel von Peter Sawicki entgegenwirken.

Das New England Journal of Medicine ist eine der weltweit wichtigsten wissenschaftlichen Fachzeitschriften in der Medizin. Das in den USA herausgegebene Journal ist zugleich derzeit das Hauptdiskussionsforum für die anstehende US-Gesundheitsreform. Der unter dem Titel "Communal Responsibility für Health Care - The Example Benefit Assessment in Germany" lesen sie als nachfolgendes Manuskript.

Mit der Bedeutung des Solidarprinzips für die Zukunft des deutschen Gesundheitssystem befassen sich auch zwei soeben veröffentlichte, von Peter Sawicki und Mitarbeitern verfasste Beiträge: "Was uns Gesundheit wert sein sollte" erschien erstmalig am 21. Oktober 2009 in der Print-Ausgabe der Wissenschafts-Beilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der Aufsatz "Qualität im Gesundheitswesen basiert auf Wissenschaft" ist gerade in einem von Nils C. Bandelow, Florian Eckert und Robin Rüsenberg herausgegebenen Sammelband erschienen (Gesundheit 2030. Qualitätsorientierung im Fokus von Politik, Wirtschaft, Selbstverwaltung und Wissenschaft, VS Verlag für Sozialwissenschaften).

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der deutschen Übersetzung

Solidarische Verantwortung für die Gesundheitsversorgung – das Beispiel der Nutzenbewertung in Deutschland von Peter T. Sawicki

"Communal Responsibility for Health Care – The Example of benefit Assessment in Germany“, New England Journal of Medicine, 29.10.2009

Viele deutsche Beobachter sind verblüfft angesichts der Debatte über eine Reform des US-amerikanischen Gesundheitssystems. Für die meisten Europäer ist eine erschwingliche Krankenversicherung ein fundamentales Element einer stabilen und wohlhabenden Gesellschaft – ein Element, das auf den Prinzipien einer solidarischen Gemeinschaft ruht.

USA und Deutschland sind beide durch eine wohlhabende und demokratische Gesellschaft geprägt, mit starken, nicht staatlichen Institutionen. In Deutschland zahlen 90 % der Bevölkerung erschwingliche Beiträge in das gesetzliche Krankenversicherungssystem ein, dies wird durch Beiträge der Arbeitgeber und Steuermittel ergänzt. Die übrigen 10 % der Bevölkerung, die über einer gewissen Einkommensgrenze liegen, zahlen in eine private Krankenversicherung ein. Für die kleine Gruppe derjenigen, die Unterstützung vom Staat bekommen, oder kein Einkommen haben, werden die Beiträge aus Steuereinnahmen finanziert.

Die meisten Europäer glauben, dass ein starkes Gemeinwesen die treibende Kraft für eine gute Gesundheitsvorsorge und eine wohlhabende Gesellschaft ist. Angemessene und notwendige medizinische Versorgung kann so teuer sein, dass nur wenige sie alleine finanzieren könnten. Wenn aber die Risiken unter allen aufgeteilt werden, kann jedem Bürger und jeder Bürgerin eine optimale medizinische Versorgung zuteil werden. Diese Risiken gemeinschaftlich zu tragen ist kein unrealistisches Ideal. Die solidarische Unterstützung der Kranken durch die Gesunden ist im eigenen Interesse, da auch Gesunde eines Tages teure Behandlungen benötigen können und sich dann auf die gesunden Arbeitenden verlassen müssen – und auch, wenn der Fall nicht eintritt, so sind sie von der Sorge befreit, im Krankheitsfall ohne medizinische Hilfe bleiben zu müssen. Dies ist kein kommunistischer oder sozialistischer Ansatz sondern pures Eigeninteresse. In der Tat wurde dieses System vor 125 Jahren von dem konservativen deutschen Politiker Otto von Bismarck eingeführt.

Manche Amerikaner befürchten, dass in einem solchen System das individuelle Wohlergehen auf Kosten der Gemeinschaft geopfert würde. Die meisten Ärzte in den USA unterstützen allerdings die Idee einer Beschränkung von teuren Medikamenten und Verfah-ren, wenn dies bedeuten würde, dass allen Bürgern eine Basisversorgung zugänglich gemacht werden könnte.

In einem auf Solidarität basierenden Gesundheitssystem kann nicht jede Behandlung allen Bürgern angeboten werden. Dies ist aber auch in Versicherungssystemen nicht möglich, die aus Steuermitteln oder privat finanziert werden. Es gibt jedoch Kriterien, mit welchen bestimmt werden kann, welche Leistungen wie eingeschränkt werden können. In Deutschland sind diese Prinzipien im Gesetz verankert. Eine Behandlung muss „notwendig“ 1
sein, um von der gesetzlichen Krankenkasse erstattet zu werden. Dieses Kriterium basiert auf der Perspektive des individuellen Patienten: Er hat ein Recht auf das, was objektiv notwendig ist, um die Krankheit zu heilen, eine Verschlimmerung zu verhindern, oder das Leiden zu lindern. Aber auch die Perspektive der Gesellschaft wird einbezogen: Die Kosten müssen im Vergleich zum möglichen Nutzen angemessen sein.

Eine Versorgung wird als "notwendig" erachtet, wenn die Leistung einen wissenschaftlich erwiesenen Nutzen hat – klinische Studien müssen belegt haben, dass das Risiko zu sterben oder Komplikationen zu erleiden reduziert wird, oder sich die gesundheitsbezogene Lebensqualität verbessert.
Wenn eine Behandlung einen wirklichen Nutzen hat, dann sollte sie allen zur Verfügung stehen, die sie benötigen. Die Entscheidung, was notwendig ist, wird im Einzelfall von Patienten und ihren Ärzten getroffen. Wenn aber eine Technologie keinen erwiesenen relevanten Nutzen hat, dann darf sie nicht durch ein solidarisches Gesundheitssystem finanziert werden. Und: sollte es eine akzeptierte Alternative mit ähnlichem Nutzen geben, die kosteneffektiver ist, dann hat eine Technologie nicht automatisch Anspruch auf Finanzierung durch die Solidargemeinschaft.

Die Methode mit der diese Kriterien angewandt werden, in Deutschland "vergleichende Nutzenbewertung" und in den USA "Comparative Effectiveness Research" (CER) genannt, wird in beiden Ländern diskutiert. Nur wenn es eine rationale Basis für Erstattungs-entscheidungen gibt, kann eine Gesellschaft der Verantwortung gegenüber ihren Mitgliedern gerecht werden. Es ist daher kein Zufall, dass fast alle europäischen Länder mit einem solidarisch verfassten Krankenkassensystem auch eine Nutzenbewertung haben, die Patienten vor einem Schaden schützt und einem finanziellen Missbrauch der Solidar-gemeinschaft vorbeugt.

Ein Grund für die Einführung der Nutzenbewertung in Deutschland ist, dass viele Produkte, die als "Innovationen" vermarktet werden, in Wirklichkeit alte Produkte in einer neuen, teureren Verpackung sind. In manchen Fällen ist ein neues Produkt sogar schlechter als ein altbewährtes und kann dann ohne Nachteile für die Gesundheit aus der Erstattung ausgeschlossen werden.
Kriterien für die Bewertung und für die Entscheidungsfindung müssen an die jeweiligen Gesundheitssysteme und -kulturen angepasst werden. Im deutschen System hat der klinische Nutzen für Patienten klare Priorität; Kosten spielen lediglich eine sekundäre Rolle, es sei denn, es gibt eine Alternative, die als medizinisch gleichermaßen gut oder fast genauso gut bewertet wird. Diese Priorisierung der Gesundheit und der Rechte des Einzelnen im Gegensatz zu der Gewichtung von Kostenfaktoren ist eine Reaktion auf die Geschichte Deutschlands: Während des "Dritten Reiches" wurden im Namen der "Volks-gesundheit" Verbrechen begangen – wie etwa die Zwangssterilisation von Behinderten – und dies hat Narben hinterlassen.

Da in Deutschland die Angst vor einem staatlich regulierten Versicherungssystem sehr tief sitzt, werden tägliche Entscheidungen nicht vom Staat sondern von einer unabhängigen Instanz getroffen, die das Gesundheitssystem repräsentiert. Vertreter von Krankenkassen, von Ärzten und Krankenhäusern und von Patienten müssen Entscheidungen gemeinsam treffen.

Die Regierung beaufsichtigt das Vorgehen dieses Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) lediglich, um die Erfüllung der gesetzlichen Pflichten sicherzustellen. Um zu gewährleisten, dass die Entscheidungen des G-BA auf fundierten Belegen beruhen, stellt dem G-BA das unabhängige „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“, dessen Leiter ich bin, Berichte zur Nutzenbewertung und wissenschaftliche Empfehlungen zur Verfügung. Unser Ansatz bei Erstattungsentscheidungen lässt sich am besten am Beispiel Arzneimittel darstellen. Eine Nutzenbewertung ist der erste Schritt. Stellt ein Arzneimittel einen echten Durchbruch dar, so müssen die Krankenversicherungen dafür zahlen, egal welchen Preis der Hersteller festlegt. Da echte Innovationen belohnt werden sollen, gibt es hier keine Preisgrenzen. Wenn aber ein neues Medikament nur einen kleinen Nutzen gegenüber anderen Medikamenten hat, zum Beispiel nur einmal statt dreimal am Tag eingenommen werden müsste, dann kann eine Kosten-Nutzenbewertung vorgenommen werden. Auf der Basis einer solchen Bewertung hat dann das Krankenversicherungssystem das Recht, eine maximale Obergrenze für eine Kostenerstattung festzulegen. Sollte der Hersteller den Preis nicht bis zu dieser Grenze reduzieren, so muss der Patient die Differenz aus eigener Tasche zahlen. Ein ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis bedeutet also nicht, dass eine Leistung keine Finanzierung aus öffentlichen Geldern erhält, sondern eher, dass auf den Hersteller Preisdruck ausgeübt wird.

Eine andere Möglichkeit ist, dass ein Medikament genauso effektiv ist wie konkurrierende Produkte. Solche Medikamente können in sogenannten "Festbetragsgruppen" zusammen-gefasst werden. Das Krankenversicherungssystem sieht feste Kostenerstattungsbeträge für alle Medikamente innerhalb einer solchen Gruppe vor. Diese Beträge orientieren sich an Produkten in der niedrigen Preiskategorie.

Senkt ein Hersteller den Preis seines Produktes nicht entsprechend, so muss der Patient die zusätzlichen Kosten aus eigener Tasche zahlen – üblicherweise wird jedoch zu anderen Alternativen gewechselt. Auf diese Weise ist zum Wohl der Gemeinschaft die Wahl für Ärzte und Patienten eingeschränkt – eine Art von Zugangsbeschränkung, die die deutschen Ärzte und die pharmazeutische Industrie wenig begeistert, aber für Patienten keine gesundheit-lichen Nachteile birgt.

Im Allgemeinen kann ein Medikament nur dann gänzlich von der Erstattung der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen werden, wenn es bewiesenermaßen weniger effektiv ist als andere Medikamente. In diesem Fall muss der Patient für die vollen Kosten aufkommen. In einigen wenigen Fällen kann ein Arzneimittel, das teurer aber weniger effektiv ist und aus irgendeinem Grund in keine Festbetragsgruppe eingeordnet werden kann, ganz aus der Erstattungsliste gestrichen werden.

Natürlich ist auch das deutsche System einem gewissen Druck ausgesetzt und es gibt Unzufriedene – insbesondere einige Ärzte, die höhere Einkommen erwarten. Dennoch trägt die Beschränkung des Zugangs zu Interventionen ohne nachgewiesene Überlegenheit dazu bei, ein System zu stabilisieren, um sicherzustellen, dass jeder Bürger weiterhin eine hochwertige medizinische Versorgung erhält. Würde man hingegen Leistungen, die medizinisch notwendig sind und zu denen es keine Alternative gibt, beschränken oder ausgrenzen, so wäre dies eine potenziell schädliche Rationierung. Im Gegensatz dazu ist eine Beschränkung der Wahlfreiheit unter gleichermaßen effektiven Alternativen keine Rationierung, sondern lediglich rational. Darüber hinaus schützen diese Bewertungen Patienten vor Schaden, der durch Überbehandlungen und ineffektive Behandlungen verursacht wird. Eine der Stärken eines gesellschaftlich finanzierten und verwalteten Gesundheitssystems ist, dass der ärztliche Grundsatz, Patienten unnötige (und damit meist schädliche) Behandlungen zu ersparen, zu einer rechtlichen Verpflichtung wird.

Kontakt
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
Telefon: 0221-35685-0
E-Mail: info@iqwig.de

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