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Mittwoch, 30. November 2016

Gesundheitsausschuss/Anhörung: "Kritik an Heil- und Hilfsmittelreform"

Von: Deutscher Bundestag / Pressemitteilung

Die von der Bundesregierung geplante Reform der Heil- und Hilfsmittelversorgung wird von Gesundheitsexperten sowie den betroffenen Branchenvertretern sehr befürwortet. Einzelne Regelungen in dem Gesetzentwurf (18/10186) stoßen jedoch auf Bedenken, wie sich anlässlich der öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses zu der Vorlage am 30.11.2016 in Berlin zeigte und auch aus den schriftlichen Stellungnahmen der Sachverständigen hervorgeht.

So fürchten etwa die Hersteller und Anbieter von medizinischen Hilfsmitteln, dass sie bei der Vergabe von Aufträgen künftig benachteiligt werden könnten. Auch die Qualitätsoffensive wird in der praktischen Anwendung kritisch gesehen. Ferner sorgen sich Experten wegen der zusätzlich geforderten Angaben um den Datenschutz und die Bürokratielasten.

Während Heilmittel wie Krankengymnastik oder Massagen zur Gesundung beitragen, dienen Hilfsmittel wie Rollstühle, Prothesen oder Brillen dazu, Defizite auszugleichen.

Die Reform soll mehr Qualität und Transparenz in diesen Markt bringen. Mit dem Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) soll der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) dazu verpflichtet werden, bis Ende 2018 das Hilfsmittelverzeichnis zu aktualisieren. Zudem soll der Spitzenverband bis Ende 2017 eine Systematik schaffen, um das Verzeichnis auch künftig aktuell zu halten.

Die Krankenkassen sollen bei ihren Vergabeentscheidungen künftig neben dem Preis auch qualitative Anforderungen an die Hilfsmittel berücksichtigen. Zudem werden die Krankenkassen auch bei Ausschreibungen dazu verpflichtet, den Patienten eine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen mehrkostenfreien Hilfsmitteln einzuräumen.

Um mehr Transparenz zu schaffen, müssen die Anbieter die Versicherten künftig beraten, welche Hilfsmittel und zusätzlichen Leistungen für sie geeignet sind und von den Krankenkassen als Regelleistung bezahlt werden. Die Anbieter werden verpflichtet, die Höhe der Mehrkosten anzugeben.

Die Krankenkassen sollen über ihre Hilfsmittel-Vertragspartner und die Inhalte der Verträge informieren. So können Versicherte die Angebote der Krankenkassen im Bereich der Hilfsmittel vergleichen.

Heilmittelerbringer, also Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden (Sprachtherapie) und Podologen (Fußheilkunde), sollen künftig über sogenannte Blankoverordnungen stärker in die Verantwortung genommen werden. Demnach wird das Heilmittel weiter von einem Arzt verordnet, der Heilmittelerbringer bestimmt aber Auswahl, Dauer und Abfolge der Therapie.

In dem Gesetzentwurf umstritten ist die sogenannte 40/60-Regelung, die bewirken soll, dass die Krankenkassen den Zuschlag für ein HILFSMITTEL nicht nur aufgrund des guten Preises erteilen, sondern auch die Qualität maßgeblich ist. Im Gesetz heißt es dazu, soweit die qualitativen Anforderungen nicht "erschöpfend" in der Leistungsbeschreibung festgelegt seien, müsse bei der Gewichtung der Zuschlagskriterien der Qualitätsaspekt zu mindestens 40 Prozent berücksichtigt werden.

Der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) hält das für problematisch und meint, wie auch die Herstellervereinigung eurocom, damit liefe die eigentliche Absicht ins Leere. Schon heute rechtfertigten die Krankenkassen die Wahl des Preises als einziges Zuschlagskriterium mit dem Argument, die Qualität sei abschließend im Rahmen- und Hilfsmittelvertrag geregelt, gibt BVMed zu bedenken. Die 40/60-Regelung werde somit voraussichtlich auch künftig, gerade bei Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses, nicht angewendet. Das alleinige Zuschlagskriterium bliebe dann der günstigste Preis.

Nach Ansicht des GKV-Spitzenverbandes ist die Qualitätsoffensive in der Intention sehr zu begrüßen. Jedoch lasse die Ausgestaltung der neuen Regelung "entscheidende Fragen unbeantwortet" und werde eher zu neuen Rechtsunsicherheiten als zu einer Qualitätsverbesserung führen. Statt der Gewichtung von Zuschlagskriterien sollte den Krankenkassen generell ermöglicht werden, qualitativ höherwertige Leistungen anbieten zu können. Dazu seien größere vertragliche Gestaltungsspielräume nötig.

In dem Zusammenhang bemerkte der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT), angesichts der geplanten Regelungen zur Daten- und Informationsübermittlung stelle sich die Frage, wer bei der Verarbeitung und Weitergabe von medizinischen und ökonomischen Messdaten welche Rechte besitze. Die Meldung privater Aufzahlungen der Versicherten verstoße gegen das Verfassungsrecht und das Bundesdatenschutzgesetz. Im Bereich der individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) würden von den Krankenkassen keine Daten erhoben. Es gebe keinen Grund, die Höhe des privaten Aufzahlungsbetrags von der GKV zu erheben und zu nutzen. Auch die Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung sieht diese Regelung kritisch und rät zu einem anderen Verfahren.

Der Deutsche Industrieverband für optische, medizinische und mechatronische Technologien forderte Mitentscheidungsrechte der Hersteller bei der Verfahrensordnung zur Aufnahme von Hilfsmitteln und zur Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses. So sollte der GKV-Spitzenverband dazu verpflichtet werden, ein Expertengremium mit medizinischen Fachgesellschaften und Verbänden der Hersteller und Leistungserbringer zu installieren.

Ein Sachverständiger aus der Praxis erinnerte in der Anhörung an den Skandal mit minderwertigen Inkontinenzprodukten (Windeln) und hob die Bedeutung verlässlicher Qualitätsstandards auch in diesem Bereich hervor. Ein Sprecher des Zentralverbandes Orthopädieschuhtechnik (ZVOS) gab in der Expertenrunde zu Bedenken, dass etwa bei der Anpassung orthopädischer Einlagen für Diabetiker die Dienstleistung entscheidend sei. Dies müsse bei der Ausschreibung individuell gefertigter Hilfsmittel berücksichtigt werden.

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) appellierte in seiner Stellungnahme an den Gesetzgeber, die "schwerwiegende Versorgungslücke" in Fällen von gravierender Fehlsichtigkeit mit der Novelle endlich zu schließen. Die Betroffenen seien ohne Brille oder Kontaktlinsen nahezu blind, bekämen aber die nötige Hilfe nicht, weil sie mit "hinzugedachten" Sehhilfen mehr als 30 Prozent sehen könnten. Wer sich die teuren Sehhilfen nicht leisten könne, sei in seiner Teilhabe am gesellschaftlichen Leben massiv beeinträchtigt und könne kaum ein eigenständiges Leben führen. Betroffen seien zum Beispiel Patienten mit pathologischer Myopie oder Aphakie (Linsenlosigkeit).

Was die HEILMITTEL angeht, plädierten der GKV-Spitzenverband wie auch einzelne Krankenkassen dafür, die Bewertung der bereits laufenden Modellprojekte zur Blankoverordnung abzuwarten und erst dann über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Der Spitzenverband der Heilmittelverbände (SHV) machte sich dafür stark, gleich den Direktzugang von Versicherten zu Heilmittelerbringern zu ermöglichen und dies zu erproben. Der Direktzugang wäre effektiv und mit Einsparungen verbunden. Eine Sprecherin des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie (dbl) sagte in der Anhörung, der Direktzugang werde sofort benötigt, die Blankoverordnung sei nicht interessant.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) nannte die Intention des Gesetzgebers nachvollziehbar. Die Regelung könnte auch zu einer sinnvollen Entlastung der Ärzte führen. Allerdings müssten die Mediziner zwingend in die Modellvorhaben eingebunden werden, weil sie die Gesamtverantwortung trügen und damit die Möglichkeit haben müssten, kontraindizierte Heilmittel auszuschließen oder eine Heilmitteltherapie zu beenden. Zudem müsse es klare Regelungen zur Rückmeldung der Heilmittelerbringer an den Arzt geben.

Heftig umstritten ist die in den Jahren 2017 bis 2019 vorgesehene Aufhebung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität, die mehr Spielraum bei der Vereinbarung der Heilmittelpreise ermöglichen soll. Damit werde eine Preisspirale in Gang gesetzt, die bei den Beitragszahlern zu weiteren finanziellen Belastungen führen werde, warnte der GKV-Spitzenverband.

Im Gesetz ist dazu vorgesehen, in den drei Jahren die Anbindung der Heilmittelpreise an die Grundlohnsumme abzukoppeln. Die Grundlohnsumme setzt sich zusammen aus den beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherten. Die Entwicklung der Grundlohnsumme ist maßgeblich für die Vergütung der Leistungen in der GKV, denn laut Gesetz müssen die Vergütungen so ausfallen, dass keine Beitragssatzerhöhungen notwendig werden.

Auch der Sozialverband Deutschland (SoVD) erklärte, diese Regelung werde nicht zu Leistungsverbesserungen führen, sondern lediglich die Verhandlungsposition der Heilmittelerbringer stärken. Die Interessengemeinschaft der selbstständigen Sprachtherapeuten hält hingegen die jetzigen Sockelbeträge für völlig unzureichend. Die freien Praxen seien nicht annähernd in der Lage, ihren Angestellten Tariflöhne zu zahlen. Zwischen den Gehältern im stationären und ambulanten Bereich klaffe eine Lücke von bis zu 40 Prozent. Nach Ansicht des SHV sollte die Grundlohnsummenanbindung für immer wegfallen.

In der Anhörung mitberaten wurden zwei Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (18/8399; 18/10247) zur Heilmittelversorgung sowie mehrere Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen von Union und SPD, die nicht unmittelbar mit der Heil- und Hilfsmittelreform zusammenhängen.

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