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Mittwoch, 22. März 2006

Die Presse meldet: Wie Ulla Schmidt das kränkelnde Gesundheitssystem umbauen will

Von: Impulse, Spiegel, Deutsches Ärzteblatt

Bei der Gesundheitsreform gelten das SPD-Konzept einer Bürgerversicherung und der CDU-Plan einer Pauschalprämie für unvereinbar. Ministerin Ulla Schmidt (SPD) will nach impulse-Informationen eine Symbiose der Modelle versuchen.

Die Eckpunkte des Reformvorschlags stehen weitgehend fest. Dieser versucht, die Kernforderungen von Union und Sozialdemokratie zu versöhnen. Demnach soll die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung aus fast gleich hohen Einzahlungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern entfallen.

Der bisherige Arbeitgeberanteil wird einmalig an die Beschäftigten ausgezahlt, die dann allein den weiterhin einkommensabhängigen Beitrag zahlen müssen. Sämtliche Beitragssteigerungen in der Zukunft gehen dann zu ihren Lasten. Die Ministerin will so die Zustimmung der Union gewinnen, denn die Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohn­neben­kosten ist der zentrale Gedanke des Prämienmodells.

Gleichzeitig finden sich auch Elemente der Bürgerversicherung in der Reformvariante wieder. So ist geplant, die Versicherungspflichtgrenze von 3.938,00 Euro Monatsbrutto deutlich anzuheben, ab der Arbeitnehmer sich privat krankenversichern können. ­Folge: Die Kassen bekommen mehr Pflichtmitglieder; die Privatversicherer bleiben bestehen, büßen aber ­Kunden ein. Zugleich sollen die Unternehmen in den Finanzausgleich der gesetzlichen Kassen einbezogen werden, weil sie von den guten Risiken ihrer Versicherten profitieren.

Die Gesundheitsreform gilt als das ambitionierteste Projekt der Großen Koalition in Berlin. Im Wahlkampf war das Thema ein großer Streitpunkt. Weil in den Koalitionsverhandlungen keine Einigung möglich war, wurde die Debatte auf dieses Frühjahr vertagt. Viele Experten fordern seit langem einschneidende Reformen auf der Einnahmeseite, um das Gesundheits­system zukunftsfest zu machen

Der Spiegel schreibt in seiner aktuellen Ausgabe:


Der Plan zur Rettung des kränkelnden deutschen Gesundheitswesens ist so gut wie fertig: Die Ministerin setzt auf eine Kombination aus Kopfpauschale und Bürgerversicherung.

Ulla Schmidt schweigt. Eisern. Wer die Ministerin in diesen Tagen nach dem Stand ihrer Gesundheitsreform fragt, erhält stets dieselbe Antwort. "Ich werde der Koalition Ende März, Anfang April einen Lösungsvorschlag vorlegen", sagt sie dann im Stil einer Telefonschleife. Bis dahin gebe es nichts mitzuteilen. Punkt. Aus. Ende der ministeriellen Durchsage.

Die Sozialdemokratin aus Aachen behandelt ihre Pläne wie eine geheime Kommandosache. Nur ein kleiner Kreis von Vertrauten und politischen Partnern ist bislang eingeweiht. Dabei liegt das weitgehend fertige Reformkonzept bereits seit Wochen vor.

Mitentwickelt hat es der Essener Gesundheitsökonom Jürgen Wasem. Über den Plan, der unter dem Arbeitstitel "Drei-Säulen-Modell für die Gesetzliche Krankenversicherung" firmiert, ist SPD-Chef Matthias Platzeck ebenso informiert wie Vizekanzler Franz Müntefering. Führende Gesundheitspolitiker von Union und SPD kennen das Konzept, und auch die Spitzen der Gesundheitsbürokratie wurden bereits eingeweiht. In den Chefetagen großer Krankenkassen kursieren seit Wochen detaillierte Analysen, wie sich das Modell auf die Finanz- und Wettbewerbslage ihrer Unternehmen auswirken könnte. Schließlich geht es um nichts weniger als die Ablösung des heutigen Systems der Kassenfinanzen.

Schmidts Plan ist der erste Schritt zum möglicherweise wichtigsten Reformprojekt der Großen Koalition. Noch im Wahlkampf hatten sich Union und SPD einen verbissenen Schlagabtausch über den geplanten Umbau des Sozialstaats geliefert. Die Sozialdemokraten propagierten ihr Konzept einer Bürgerversicherung, die CDU kämpfte für ihr Modell einer pauschalen Gesundheitsprämie. Ein Kompromiss schien ausgeschlossen. Als die Gegner nach der Wahl ihren Koalitionsvertrag aushandelten, wurde das Problem zunächst vertagt.

Nun hat die Ministerin ein Konsensmodell ausarbeiten lassen, das auf denkbar einfachste Weise Elemente aus beiden Konzepten miteinander kombiniert. Mit dem Schmidt-Modell sollen kurzerhand beide Systeme eingeführt werden.

Ein Teil der Gesundheitskosten würde danach künftig über eine pauschale Prämie finanziert, so wie es die CDU bislang forderte. Gleichzeitig müssten die Kunden von AOK und Co. nach dem Prinzip der Bürgerversicherung auch Abgaben auf Zinsen, Mieten oder Kapitalerträge zahlen. Wer privat versichert ist, soll die gesetzlichen Kassen in Zukunft ebenfalls unterstützen.

Die Vorzüge des Konzepts: Die Große Koalition könnte ihr selbst gesetztes Ziel erreichen und die aus dem Ruder laufenden Gesundheitskosten zumindest teilweise vom Faktor Arbeit abkoppeln. Zum anderen bietet das Modell jede Menge Spielraum für die bevorstehenden Reformverhandlungen in der Koalition.

Die Bestandteile des Konzepts können unterschiedlich gewichtet, kombiniert und beinahe beliebig um weitere Punkte aus den Forderungskatalogen beider Parteien erweitert werden. "Das Konzept erlaubt nahezu unendlich viele Variationsmöglichkeiten", sagt Schmidt-Berater Wasem.

Für die Ministerin liegt darin der eigentliche Charme des Modells. Wird es zur Verhandlungsgrundlage der Reformgespräche, würde Ulla Schmidt wohl die Regie der Verhandlungen übernehmen. Fällt ihr Plan in der Koalitionsspitze dagegen durch, wäre ihre politische Karriere schwer beschädigt.

Schmidt weiß, dass ihr Plan nicht ohne Risiko ist, denn er produziert nicht nur Gewinner. Zwar würde ein großer Teil der Beschäftigten entlastet, doch gleichzeitig müssten vermögende Rentner und Privatversicherte erhebliche Einbußen befürchten. Auch Wohnungsvermieter und Börsenspekulanten dürften mehr zahlen als bisher.

Schmidts Mix funktioniert so: Bislang werden die Kassenbeiträge ausschließlich vom Lohn abgezogen, 6,55 Prozent vom Brutto zahlen im Schnitt die Arbeitgeber, die Beschäftigten steuern inklusive Zahnersatz 7,45 Prozent bei. Das gilt als beschäftigungsfeindlich und wenig zukunftsfähig. Die hohen Lohnabzüge machen Arbeitsplätze teuer. Gleichzeitig schmilzt die Finanzbasis der Kassen, weil die Beschäftigtenzahl sinkt.

Diese Entwicklung will Schmidt stoppen. Nach ihrem Plan dürfen die Versicherungen künftig auf deutlich mehr Finanzquellen zugreifen als bisher. Die Arbeitnehmer müssten doppelt zahlen. Auch in Zukunft würden sie einen Sozialbeitrag abführen, der allerdings auch auf Miet- und Zinseinkünfte fällig würde - und ans Finanzamt abzuführen wäre. Im Gegenzug könnten die Beitragssätze auf etwa sechs bis sieben Prozent sinken.

Zusätzlich würden die Versicherten eine Pauschalprämie von etwa 15 Euro im Monat zahlen. Der Arbeitgeberbeitrag dagegen würde wie bisher erhoben und läge, je nach Ausgestaltung des Modells, zwischen 6 und 6,5 Prozent. Auch das Verfahren, nach dem die Gelder eingesammelt werden, soll geändert werden. Heute überweist der Arbeitgeber sämtliche Beiträge. Künftig würde der Versicherte seine Pauschalprämie selbst an die Kasse zahlen. Die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sollen an einen Fonds abgeführt werden, der das Geld nach einem komplizierten Verteilungsschlüssel an die Kassen weiterleitet.

Es spricht vieles dafür, dass die Grundzüge von Schmidts Drei-Säulen-Konzept in der Koalition mehrheitsfähig sein könnten. Der Teufel steckt im Detail, denn dort liegen die Positionen von Union und SPD weit auseinander.

So sieht Schmidts Modell bislang vor, dass etwa 90 Prozent der Kassengelder wie bisher über Beiträge erhoben werden sollen. Die Prämie würde lediglich zehn Prozent zu den Gesundheitskosten beisteuern. Die Union dagegen will einen weit höheren Anteil durchsetzen.

Ebenso umstritten ist die Entwicklung der Arbeitgeberbeiträge. Während CDU und CSU dafür eintreten, den Abgabensatz auf seinem neuen Niveau einzufrieren, will die SPD am bisherigen Mechanismus festhalten. Steigen die Kosten des Medizinbetriebs, sollen auch die Unternehmen mehr zahlen.

Der größte Konflikt aber droht beim Streitthema Privatversicherung. Schmidt will die Unternehmen und ihre Kunden zugunsten der gesetzlichen Konkurrenz kräftig zur Kasse bitten.

Entweder sollen die Privatversicherungen in ihrer heutigen Form weitgehend abgeschafft und in das neue Finanzierungssystem einbezogen werden - oder die Politik zwingt sie zu Geldspritzen an die AOK und die anderen Kassen.

Geht es nach der Ministerin, könnte die Branche in das interne Ausgleichssystem der gesetzlichen Kassen eingegliedert oder die Schar der Privatversicherten mit einem zusätzlichen Gesundheits-Soli belastet werden. Für die Union ein Gräuel, sie will die Privatversicherungen und ihre Kunden von Sonderlasten weitgehend verschonen.

Zusätzliche Fragen ergeben sich, wenn das Konzept tatsächlich 2007 oder 2008 in Kraft gesetzt werden sollte. Die Krankenkassen, die das Modell zurzeit auf seine Machbarkeit abklopfen, weisen intern schon jetzt auf eine ganze Reihe technischer Umsetzungsprobleme hin:

  • Das Modell erfordert zusätzliche Bürokratie. Derzeit gibt es ein einheitliches Einzugsverfahren für alle Beiträge. Künftig müsste für jede Finanzierungssäule ein separates Procedere entwickelt werden.
  • Die Finanzämter, die den neuen Versichertenbeitrag einziehen sollen, haben von manchen Kassenkunden wie Arbeitslosen oder Sozialgeldbeziehern keine Daten.
  • Der geplante Durchschnittsbeitrag von 15 Euro verbirgt, dass die Beiträge der Einzelkasse beträchtlich schwanken können. Je nach Ausgestaltung des Schmidt-Modells müssten manche Kassen bis zu 40 Euro kassieren, andere hätten ihren Kunden sogar noch etwas draufzulegen.

Ob Schmidts Konzept realisiert werden kann, wird sich indes schon bald erweisen. Unmittelbar nach den bevorstehenden Landtagswahlen will die Ressortchefin ihr Vorhaben der Koalitionsspitze vorstellen. Die Parteichefs von CDU, CSU und SPD wollen dann rasch entscheiden, ob auf Basis ihres Plans weiterverhandelt werden soll.Bis dahin will die Ressortchefin schweigen. Auch ihre Beamten haben striktes Redeverbot. Es droht die Höchststrafe: Wer etwas durchsickern lasse, so kündigen Schmidts Vertraute an, werde "einen Kopf kürzer gemacht".

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