Deutsche verlangen umfassende Reformen für einen starken Sozialstaat
Die ZDF-heute Redaktion berichtet: Die Deutschen wünschen sich eine energische Modernisierung des Landes. Die Mehrheit ist bereit, eine stärkere private Risikoabsicherung zu tragen, verlangt aber zugleich vom Staat sozialen Ausgleich und mehr Unterstützung gerade in den Bereichen Gesundheit, Rente und Bildung. Das sind die zentralen Ergebnisse der Umfrage Perspektive-Deutschland, die vom ZDF unterstützt wird. Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker bewertete im ZDF-heute-journal die Ergebnisse positiv: "Der Pessimismus nimmt fühlbar ab."
An der fünften Auflage der Online-Befragung beteiligten sich von Oktober 2005 bis Januar 2006 über 620.000 Bürger. Perspektive-Deutschland ist damit die größte gesellschaftspolitische Umfrage weltweit. Wie in den Vorjahren sehen die Deutschen einen großen Reformbedarf in ihrem Land. 54 Prozent sprechen sich für weniger Staat aus und sind dafür bereit, sich stärker privat abzusichern. Allerdings wird der Staat nicht grundsätzlich aus der Pflicht genommen: Gesundheit, Rente und Bildung werden als staatliche Kernaufgaben verstanden. Einen Staat, in dem der Einzelne "viel mehr Lebensrisiken" als heute trägt und die soziale Unterschiede "viel größer sind als heute", befürwortet lediglich jeder Zehnte.
Angst um den Arbeitsplatz
Die Leistungsorientierung ist ausgeprägt: 83 Prozent sprechen sich für eine bessere Belohnung von Leistung aus. Die Mehrheit bekennt sich zu Fleiß, Ehrgeiz, Lernen und Flexibilität. 29 Prozent können sich "auf jeden Fall" und 50 Prozent "unter Umständen" vorstellen, in einem anderen Beruf zu arbeiten. Groß sind die Zukunftsängste: Zwei von drei der Befragten rechnen damit, dass sich ihre finanzielle Situation verschlechtern wird. Jeder zweite fürchtet zudem um seinen Arbeitsplatz.
Die Ergebnisse der Umfrage, die vom ZDF, der Unternehmensberatung McKinsey, stern, und WEB.de initiiert wurde, sind heute in Berlin vorgestellt worden. Der Schirmherr, Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, bewertete die Ergebnisse der Umfrage im ZDF-Interview positiv: "Die politische Elite ist manchmal skeptischer als die Bevölkerung", sagte von Weizsäcker im heute-journal. "Der Pessismus nimmt fühlbar ab, die Reformbereitschaft ist da, und um sie zu nutzen, ist Mut notwendig", urteilt von Weizsäcker. Für den Deutschlandchef von McKinsey Jürgen Kluge belegt die Umfrage, dass die Menschen der Politik vorauseilen: "Die Bürger fordern mehr Markt und mehr Gemeinschaft zugleich. Sie erkennen, dass dies kein Gegensatz sein muss und darf."
Größte Zufriedenheit in Süddeutschland
Die Perspektive-Deutschland fragte auch nach der Zufriedenheit der Menschen in den Regionen. Zweidrittel der Bevölkerung leben laut der Umfrage gerne am Wohnort, die zufriedensten sind im Süden Deutschlands zuhause. Unter den ersten 20 Regionen liegen allein 16 in Bayern und Baden-Württemberg. Am zufriedensten sind die Menschen in Bodensee-Oberschwaben, gefolgt vom südlichen Oberrhein und dem bayerischen Oberland. Die beliebteste Großstadt ist Stuttgart.
Ein Trend aus dem Vorjahr bestätigt sich: Der Osten gewinnt an Attraktivität. Dresden und Leipzig gehören zu beliebtesten 15 Großstädten. Allerdings zeigt die Umfrage auch, dass die Bürger Ostdeutschlands grundsätzlich unzufriedener sind als die Westdeutschen. Die größte Unzufriedenheit herrscht in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Mit Blick auf die überregionalen Lebensumständen äußern 61 Prozent aller Befragten dennoch, dass man alles in allem "gut" oder "sehr gut" in Deutschland leben kann. Nur sieben Prozent sind unzufrieden mit der Lebenssituation in der Bundesrepublik.
Die politischen Institutionen betrachten die Deutschen kritisch. Mehr als 80 Prozent der Befragten sehen eine dringende Reformbedürftigkeit der Parteien. Der Arbeitsmarkt bleibt das dringendste Reformthema. Jeder Dritte der Berufstätigen würde unbezahlt mehr arbeiten oder Urlaubstage opfern, um seinen eigenen Arbeitsplatz zu sichern. Allerdings würde lediglich ein Viertel der Erwerbstätigen würde für einen Arbeitsplatzwechsel einen Umzug von mehr als 100 Kilometern in Kauf nehmen umziehen. Bei den Arbeitslosen ist die Bereitschaft noch geringer.
Starker Sozialstaat gewünscht
Die Reformbedürftigkeit des Arbeitsmarktes wird genauso erkannt wie die Krise des Sozialstaats: 60 Prozent der Befragten erwarten eine Verschlechterung der sozialen Versorgungssituation. Jeder zweite hat sich bereits um eine private Altersvorsorge gekümmert. In Fragen der Gesundheitspolitik gibt es im Vergleich zu den Vorjahren ein Umdenken. Hier nehmen die Bürger den Staat wieder stärker in die Pflicht. Während sich im Jahr 2002 noch 52 Prozent für eine Basisversorgung bei geringen Beitragssätzen aussprechen, sind es jetzt nur noch 42 Prozent. Die Bereitschaft, höhere Zusatzleistungen in der Gesundheitsfinanzierung zu tragen, nimmt ab.
Perspektive-Deutschland fragte auch nach den Gründen für die niedrige Geburtenrate in der Bundesrepublik. Der Kinderwunsch ist grundsätzlich vorhanden: Sieben von acht Deutschen im Alter zwischen 20 und 39 Jahren wünschen sich Nachwuchs. Die Gründe, warum sich eine Minderheit gegen Kinder ausspricht, sind vielfältig. Gut die Hälfte lehnt Kinder grundsätzlich ab, der Rest nennt vor allem die "hohen Kosten". Auch hier wird der Ruf nach dem Staat laut: Zwei Drittel fordern mehr Finanzhilfen für Familien.
Perspektive-Deutschland
Die Online-Umfrage fand 2001 zum ersten Mal statt. Im jährlichen Tonus wird die Stimmung in Deutschland erfragt. Die Methodik, die maßgeblich von dem amerikanischen Nobelpreisträger Daniel McFadden entwickelt wurde, bereinigt die für Online-Umfragen typischen Verzerrungen. 2400 Personen wurden zudem persönlich interviewt. Damit stellt die Umfrage repräsentative Ergebnisse sicher. Die aktuelle Ausgabe verzeichnet eine Rekordbeteiligung von 620.000 Teilnehmern. Perspektive-Deutschland ist somit die größte gesellschaftspolitische Umfrage der Welt.
Das ZDF-Politbarometer vom 28.04.2006 zeigt die Deutschen in der Sozialfrage jedoch gespalten
Im Richtungsstreit um die sozialen Sicherungssysteme sind die Deutschen gespalten. Das zeigt das aktuelle Politbaromter: 41 Prozent sind der Meinung, der Staat solle in Zukunft mehr Verantwortung übernehmen. 42 Prozent sehen jedoch jeden Einzelnen stärker in der Pflicht. Für eine Beibehaltung des Status quo sprechen sich lediglich 12 Prozent aus, fünf Prozent machen keine Angabe.
Dabei unterscheiden sich die Einschätzungen der Anhänger der Koalitionsparteien deutlich: So spricht sich nur knapp ein Drittel der CDU/CSU-Anhänger (31 Prozent) aber 45 Prozent der SPD-Anhänger für einen größeren Einfluss des Staates im Sozialversicherungssystem aus. Eine stärkere Verantwortung jedes Einzelnen fordert dagegen jeder zweite Unionsanhänger (50 Prozent) aber nur 37 Prozent der SPD-Anhänger, jeweils 13 Prozent wollen eine Beibehaltung des jetzigen Systems.
- Weiterführende Links
- perspektive-deutschland.de