Der Vertragsarzt in der Zwickmühle: Lassen sich Standard und Wirtschaftlichkeitsgebot noch vereinbaren?
Die Therapiewahlfreiheit der Vertragsärzte ist im Zuge der anhaltenden Einsparmaßnahmen im öffentlichen Gesundheitssystem weitgehend zur Makulatur geworden. Dies betrifft auch die Versorgung von Patienten mit Arzneimitteln. In der täglichen Verordnungspraxis von Vertragsärzten bestimmen Richtgrößen und Richtgrößenvolumina, die in Arzneimittelvereinbarungen zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen, den Verbänden der Ersatzkassen und den kassenärztlichen Vereinigungen („KV“) festgelegt werden, den Arbeitsalltag. In Wirtschaftlichkeitsprüfungen wird die Verordnungspraxis der Vertragsärzte an diesen vereinbarten Ausgabenvolumina gemessen. Das Ergebnis einer solchen Wirtschaftlichkeitsprüfung ist nicht selten eine Regressforderung der Kassenärztlichen Vereinigung, die für den einzelnen Vertragsarzt wirtschaftlich letal sein kann. Zugleich haftet der Vertragsarzt zivil- und strafrechtlich für eine medizinisch korrekte Versorgung seiner Patienten. Er befindet sich daher zunehmend in einem Dilemma.
I. Gesetzliche Grundlagen für die Tätigkeit des Vertragsarztes
1. Gesetzliche Grundlagen für das Wirtschaftlichkeitsgebot
Alle Leistungserbringer, die an der Versorgung der gesetzlich Versicherten zulässigerweise mitwirken, sind dem Wirtschaftlichkeitsgebot verpflichtet. Gemäß § 12 Abs. 1 SGB V müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Für den Vertragsarzt konkretisiert sich diese Vorgabe gemäß § 72 Abs. 2 SGB V durch Richtlinien des gemeinsamen Bundesausschusses und zahlreiche Verträge zwischen den kassenärztlichen Vereinigungen und den Verbänden der Krankenkassen. Im Arzneimittelbereich sind dies die jeweiligen Arzneimittelvereinbarungen. Durch ein umfassendes Regelwerk soll letztendlich die medizinisch notwendige Versorgung aller Versicherten bei größtmöglicher Beitragssatzstabilität sicher gestellt werden.
2. Die Forderung nach dem medizinischen Standard
Die Verpflichtungen des Vertragsarztes enden jedoch nicht mit der Erfüllung des Wirtschaftlichkeitsgebots. Geschuldet ist vielmehr eine Versorgung, die dem jeweiligen medizinischen Standard der einschlägigen Fachgesellschaften entspricht. Genügt die erbrachte Leistung diesem Standard nicht, macht sich der Arzt sowohl zivil- als auch strafrechtlich haftbar. Auch gemäß § 72 Abs. 2 SGB V soll die Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemeinen anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse gewährleistet werden. Eine „angemessene Vergütung“ der ärztlichen Leistungen soll dies sicher stellen. Wie der einzelne Vertragsarzt diese schwer miteinander in Einklang zu bringenden Vorgaben umsetzen soll, bleibt meistens weitgehend ihm selbst überlassen.
II. Wirtschaftlichkeitsprüfung und Regress
1. Voraussetzungen für Wirtschaftlichkeitsprüfung und Regress
Die Wirtschaftlichkeitsprüfung gemäß § 106 SGB V umfasst nicht nur die Prüfung ärztlicher Leistungen, sondern auch die Prüfung ärztlich verordneter Leistungen. Eine Wirtschaftlichkeitsprüfung bezüglich des ärztlichen Verordnungsverhaltens erfolgt überwiegend auf der Grundlage des § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V. Danach findet eine Wirtschaftlichkeitsprüfung durch eine arztbezogene Prüfung ärztlich verordneter Leistungen bei Überschreitung der Richtgrößenvolumina nach § 84 SGB V (Auffälligkeitsprüfung) statt. Die Höhe der Richtgrößen wird für jede Arztgruppe von der kassenärztlichen Vereinigung und den Verbänden der Krankenkassen auf Landesebene vertraglich festgelegt. Aus der je Patient rechnerisch zugrunde gelegten Richtgröße und der im Kalenderjahr behandelten Patientenzahl bildet sich das Richtgrößenvolumen für den einzelnen Arzt. Diese Richtgrößen und die damit verbundenen Richtgrößenvolumina haben sich an den in der jeweiligen Arzneimittelvereinbarung bestimmten Ausgabenvolumina und den entsprechenden Zielvereinbarungen zur Qualität und Wirtschaftlichkeit zu orientieren. Gemäß § 106 Abs. 5 a in Verbindung mit Abs. 1 a SGB V wird ein Prüfungsverfahren bei einem Arzt dann eingeleitet, wenn die von ihm in einem Kalenderjahr veranlassten Ausgaben für Arzneimittel, das für ihn geltende Richtgrößenvolumen um mehr als 15 % übersteigen. Bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % setzt der Prüfungsausschuss nicht nur Beratungs- und Kontrollmaßnahmen an, sondern darüber hinaus einen Regress in Höhe des sich aus der Überschreitung des Prüfungsvolumens (Richtgrößenvolumen zzgl. 15 %) ergebenden Mehraufwandes fest, den der Vertragarzt an die Krankenkassen zu zahlen hat. Gemäß § 106 Abs. 5 c SGB V hat die kassenärztliche Vereinigung dann in der jeweiligen Höhe Rückforderungsansprüche gegen den Vertragsarzt. Kommt es zu Regressforderungen, gibt es zwar gemäß § 106 Abs. 5 c Satz 4 SGB IV auf Antrag die Möglichkeit, den Anspruch zu stunden. Ein solcher Antrag an die KV- Bezirke hat aber nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn der Vertragsarzt nachweist, dass ihn die Erstattung wirtschaftlich gefährden würde. Auch dann trifft den Vertragsarzt jedoch nach § 76 Abs. 2 Nr. 1 SGB V die Pflicht zur angemessenen Verzinsung und in der Regel zur Sicherheitsleistung.
2. Einwendung von Praxisbesonderheiten
Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Vertragsarzt Praxisbesonderheiten geltend machen kann. Für Praxisbesonderheiten hat allerdings der Arzt die Darlegungs- und Beweislast. Bei der Anerkennung von Praxisbesonderheiten sind die Sozialgerichte zunehmend restriktiver geworden. Praxisbesonderheiten im Richtgrößenprüfverfahren sind ein höchstrichterlich noch weitgehend unerforschtes Feld und daher sehr schwer einschätzbar. So könnten für eine Praxisbesonderheit nicht nur ein von der Durchschnittspraxis abweichendes teureres Patientenklientel, sondern etwa auch teuere Arzneimittelinnovationen sprechen, die bereits zum von den gesetzlichen Krankenkassen geschuldeten medizinischen Standard gehören, aber bei der Festsetzung der Richtgröße noch keine Berücksichtigung gefunden haben (Stellpflug, Vertragsarztrecht / Vertragszahnarztrecht, Seite 201). In einzelnen KV- Bezirken ergeben sich in Anlagen zur Richtgrößenvereinbarung anerkannte Praxisbesonderheiten. Der Umgang der einzelnen KV- Bezirke mit diesen Anlagen-Praxisbesonderheiten ist jedoch sehr unterschiedlich. Dies gilt auch für das von den Prüfgremien gewünschte Dokumentationsverhalten bezüglich der Praxisbesonderheit. Eine weitere Frage, die sich im Zusammenhang mit den Praxisbesonderheiten stellt, ist die Frage, in welchem Umfang Praxisbesonderheiten zu berücksichtigen sind. Teilweise erkennen die Prüfgremien nur die Werte als Praxisbesonderheit an, die über dem Fachgruppendurchschnitt liegen. Andere Prüfgremien bewerten sie zu 100 % als Praxisbesonderheit. Erforderlich ist hier ein Blick in die Richtgrößenvereinbarung. Teilweise sind bereits Besonderheiten in die Richtgrößenvereinbarung eingeflossen, die dann nicht noch einmal berücksichtigt werden dürfen. Ein Problem ist auch die Ermittlung des sog. Fachgruppendurchschnitts. Oft greifen die Prüfer hier lediglich auf „Erfahrungswissen“ zurück, ohne über feste Daten zu verfügen.
3. Verfahrensrechtliche Besonderheiten
Gegen die Entscheidung des Prüfungsausschusses, bestehend aus Vertretern der Krankenkassen und der kassenärztlichen Vereinigungen, kann der Vertragsarzt, die Krankenkasse, die betroffenen Landesverbände der Krankenkassen sowie die kassenärztliche Vereinigung Widerspruch einlegen. Der Widerspruch hat gemäß § 106 Abs. 5 Satz 4 SGB V grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Dies gilt jedoch nicht für den Fall einer Honorarkürzung oder eines Regresses. Das bedeutet, dass der Vertragsarzt eine Regress-Zahlung nicht durch eine Widerspruchseinlegung hinauszögern kann. Mit Einlegung des Widerspruchs werden die Beschwerdeausschüsse tätig. Das Beschwerdeverfahren ist ein Vorverfahren im Sinne des Sozialgerichtsgesetzes, gegen dessen Entscheidung die Klage vor dem Sozialgericht zulässig ist. Da die Klage grundsätzlich gemäß § 106 Abs. 5 Satz 7, bzw. Abs. 5a Satz 6 SGB V keine aufschiebende Wirkung hat, muss gegebenenfalls ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt werden. Ein solcher Antrag hat aber nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn eine summarische Vorabprüfung eher für die Rechtswidrigkeit des Bescheids als für seine Rechtmäßigkeit spricht. Inwieweit im Vorverfahren Anwaltskosten als „notwendig“ erstattungsfähig sind, wird von den Gerichten nicht einheitlich beurteilt. Auch hier wird der Vertragsarzt also weitgehend alleine gelassen.
III. Aktuelle gesetzgeberische Entwicklungen
In diesen Tagen wird im Bundestag ein Gesetzesentwurf zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung beraten. Da die Ausgabenzuwächse im Arzneimittelbereich im Jahre 2005 nicht im Rahmen der von der Selbstverwaltung vereinbarten Steigerungsrate geblieben sind, haben sich die Regierungsparteien bereits im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, „Fehlentwicklungen bei der Arzneimittelversorgung“ zu korrigieren. In diesem Zusammenhang sieht der Vertrag auch vor, die „individuelle Verantwortung des Arztes für seine Verordnungspraxis zu stärken.“ Wie sich diese Verantwortung konkretisiert, wird das Gesetzgebungsverfahren zeigen. Der ursprüngliche Entwurf sah bereits vor, dass Ärzte, die ihr Budget um 5 bis 10% überschreiten, zu 30%, bei Überschreitung um mehr als 10% zu 50% an den Kosten beteiligt werden sollen. Wer dagegen sein Budget unterschreitet, sollte finanziell belohnt werden. Auch wenn dieser Vorschlag von den Unionsparteien heftig kritisiert worden ist und derzeit noch nicht absehbar ist, was davon gesetzlich umgesetzt wird, zeigt der Vorschlag die Tendenz, auch die Vertragsärzte zur Vermeidung der Kostenexplosion im Gesundheitswesen verstärkt in die Pflicht zu nehmen. Die Vorgaben zur Kosteneinsparung werden in nächster Zukunft auch für Ärzte sicher nicht weniger.
IV. Fazit
Aufgrund der vorgenannten Unwägbarkeiten sollte dem Vertragsarzt daran gelegen sein, Regressverfahren durch eine wirtschaftliche Verordnungsweise von vorneherein zu vermeiden. Gleichzeitig sollte er sich kompetente Partner ins Boot holen, die ihn bei der Qualitätssicherung unterstützen und Regressrisiken für ihn mindern. Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen gleichermaßen zu gewährleisten, ist ein herausforderndes Anliegen, das auf viele Schultern verteilt werden muss. Als geeignete Kooperationspartner kommen nicht nur gesetzliche Krankenkassen, sondern auch seriöse Anbieter privater Leistungen in Betracht. Der Vertragsarzt kann das Know–How Dritter hier nutzen, um sich wieder verstärkt seiner eigentlichen Aufgabe, dem ärztlichen Heilauftrag, zuwenden zu können. So schließen die gesetzlichen Krankenkassen beispielsweise mit Vertragsärzten Direktverträge mit denen diesen Ärzten Sicherheit vor Regressforderungen gewährleistet wird, wenn sich die Ärzte den Verordnungsempfehlungen dritter Dienstleister anschließen. Ein solcher Dienstleister kann die CARENOBLE GmbH & Co KG sein.
- Weiterführende Links
- www.graefe-rechtsanwaelte.de