Einem Menschen im Augenblick seiner Not zu helfen, kann niemals perspektivlos sein.

Dr. Ina Lipp

 

Ethisches Handeln verlangt im Alltag keine Großtaten oder Anstrengungen, findet Dr. Ina Lipp. Im Interview spricht die Allgemeinmedizinerin über ihre wohltätige Arbeit in den Armutsvierteln von Kalkutta.

Kooperation und Ethik

Eine besondere Verantwortung

Interview mit Dr. Ina Lipp

Frau Dr. Lipp, Sie sind in Ihrer Gemeinschaftspraxis voll berufstätig. Was treibt sie an, in Dritte-Welt-Ländern wie Indien wochenlang medizinische Hilfe zu leisten und dabei vielleicht auch eigene gesundheitliche Risiken einzugehen?

Dr. Ina Lipp: In Deutschland genießen wir ein funktionierendes Sozialsystem, auf das wir zu Recht stolz sein können. Doch eine medizinische Infrastruktur, die jedem jederzeit zugänglich ist, unabhängig von sozialer Stellung und persönlichem Einkommen, ist kein internationaler Standard. Es ist die Ausnahme. Das lässt uns Ärztinnen und Ärzte in Deutschland manchmal vergessen, von welcher Inspiration und humanistischer Berufung ärztliches Handeln grundlegend bestimmt wird. Es entsteht sogar der Eindruck, ethisches Handeln erfordere besondere Bedingungen und Umstände. Deshalb schenkt mir die freiwillige Arbeit in den Slums von Kalkutta genau das Bewusstsein einer alltäglichen Ethik.

 

Was meinen Sie mit „alltäglicher Ethik“?

Ethisches Handeln lässt sich im Alltag eines jeden jederzeit praktizieren. Es verlangt keine Großtaten oder Anstrengungen. Es folgt einer mitmenschlichen Haltung dem Leben gegenüber, anderen wohlwollend und mit Wertschätzung zu begegnen. Ganz im imperativen Sinne Immanuel Kants: Begegne deinem Nächsten, wie dir selbst begegnet werden soll. Und wir Ärzte haben hier immer eine besondere Verantwortung. Denn uns vertrauen sich Menschen mit ihren intimsten Sorgen und Nöten an.

 

Aber ist es denn nicht spektakulär und alles andere als alltäglich, Menschen in Elendsvierteln beizustehen?

Ich bin Allgemeinmedizinerin. Daher muss ich meine Patientinnen und Patienten mit einem universellen Verständnis von Gesundheit behandeln. Leichte und schwerste Krankheiten betreffen immer einen Menschen in seiner individuellen Lebensführung und erfordern ein beiderseitiges Vertrauen zum Gelingen einer Therapie. Und besonders an Orten wie Kalkutta ist meine Arbeit die einer Hausärztin: Es ist vollkommen unspektakulär, aber persönlich sehr erfüllend, Menschen, die keine Lobby, keine Chancen haben, einfach helfen zu können.

 

Sie leisten also medizinische „Basisarbeit“?

Meine Patientinnen und Patienten dort führen ihr Leben unter schwierigsten hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen, häufig ohne wertige und regelmäßige Nahrungsmittel. Sie verfügen über geringe Bildung, haben kein sauberes Wasser und sind erheblichen Umweltbelastungen und prekären Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Das alles verlangt ärztliche Hilfe im ursprünglichen Sinne von Patientenversorgung: Dem, wofür ich als Ärztin stehe.

 

Ist das nicht auch Sisyphusarbeit?

Einem Menschen im Augenblick seiner Not zu helfen, kann niemals perspektivlos sein. Der Arztberuf darf und will nicht fragen: „Wer bist Du? Wie ist Dein Wert?“ Und schon gar nicht: „Macht es eigentlich Sinn Dir zu helfen, wenn die Lebensbedingungen weiterhin krank machen?“

 

Wie werden Sie von Ihren Kollegen gesehen?

Man begegnet meiner sozialen Arbeit mit großem Respekt. Mein Eindruck ist sogar, dass Kolleginnen und Kollegen mitunter das durchorganisierte System als Belastung und Behinderung erleiden, das die Konzentration auf ihre Patienten beeinträchtigt.

 

Was können Ärztinnen und Ärzte machen, die es Ihnen gleichtun wollen?

Ich kann nur jeden einladen mitzukommen, der sich zu ärztlichem Handeln berufen fühlt. Wir arbeiten vor Ort immer unter dem Dach einheimischer Organisationen und in ärztlichen Teams mit weiteren Helfern. So können wir jederzeit alles Fachliche wie Persönliche angemessen reflektieren und so auch in kurzen Zeiträumen sehr effektiv arbeiten. Ich mache sehr gute Erfahrungen mit der Hilfsorganisation German Doctors e. V. Dort kann man auch gerne Projektpate werden oder unsere Arbeit direkt mit Spenden unterstützen.

 

Vielen Dank für die interessanten Einblicke und alles Gute für Ihre Arbeit.